Schwere Zukunft für Großbritannien, Verlust für die EU
Von Kurt Bayer
Man kann den Brexit als Sonderfall des weltweiten Zusammenbruchs internationaler Kooperationsbereitschaft sehen und als Anzeichen für die geopolitische Schwächung Europas. Afrika hat kürzlich seinen ersten inkontinenten Handelsvertrag unterzeichnet (African Continental Free Trade Area), die ASEAN-Staaten und China haben mit Neuseeland und Australien in der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) den weltgrößten Handelsraum geschaffen. Chinas Wirtschaft wird bald die größte der Welt sein, gleichzeitig ist die globale Zusammenarbeit in den meist westlich dominierten globalen Institutionen deutlich geschwächt. Währenddessen schlägt sich Europa mit dem Austritt seiner zweitgrößten Wirtschaft herum. Wem nützt das alles? Könnte man fragen. Jedenfalls sind sowohl Großbritannien als auch die EU Verlierer.
1.300 Seiten Abkommen voll von Lücken
Nach mehr als vier Jahren aufreibendster Verhandlungen, gespickt durch lange Verhandlungspausen, ist der Abschied Großbritanniens endgültig. Das UK-Parlament hat am 31.12.2020 das gemeinsame Handels- und Kooperationsabkommen („Abkommen“) ratifiziert, die EU wird dies nachholen. Das Abkommen kann mit einer alten wertvollen großen Vase verglichen werden, die zerbrochen wurde, und die man versucht hat, notdürftig wieder zusammenzukleben. Dabei sind einzelne Stücke verlorengegangen (z.B. Abkommen über den Finanzsektor und andere Dienstleistungen). Auch wenn große Teile da sind, vor allem Zoll- und Mengenfreiheit für Güter, kann die Vase kein Wasser mehr halten.
Dennoch ist Britannien fast 50 Jahre nach seinem Beitritt nun endlich wieder „souverän“, kann seine eigenen Gesetze machen, muss sich nichts mehr vom verhassten Europäischen Gerichtshof
(EuGH) in Luxemburg (Amtssprache Französisch!!!) sagen lassen und kann endlich – in den Worten von Premier Johnson – „flourish mightily“. Wir werden sehen.
Souveränität und/oder Ökonomie?
GB und die EU haben lange zuerst um den Austrittsvertrag und zuletzt um ein Handels- und Kooperationsabkommen gerungen, in welchem die künftigen Beziehungen geregelt werden sollten. Die Verhandlungen waren nicht nur personal- und kostenintensiv, sie haben auf beiden Seiten wichtige Personalressourcen und Aufmerksamkeiten erfordert, die besser zur Lösung globaler und regionaler Probleme hätten genutzt werden können.
Die Briten haben bis zur letzten Minute um Fischereirechte (ökonomisch uninteressant, politisch brisant) und vor allem die Zugangsbedingungen zum europäischen Binnenmarkt gekämpft.
Ersteres war für sie primär aus innenpolitischen Gründen wichtig: die Beherrschung der eigenen Meere ist für eine alte und stolze Seefahrernation „Britannia rules the waves“ von hohem symbolischen Wert für die angestrebte „Souveränität“. Das britische Beharren auf den Fischereirechten war aber auch für Premier Johnson wichtig, um sich (wenn auch letztlich erfolglos, wie die Reaktionen der englischen und schottischen Fischer zeigen) als „Mann der traditionellen Lebensweise“, der ländlichen Regionen gegen die vermeintlich modernistischen Innenstädte (vor allem London) zu präsentieren. Das „level playing field“, das ebene Spielfeld, die Augenhöhe, hat wichtige ökonomische Gründe, da die EU es nicht zulassen konnte, dass vor ihrer Schwelle ein ehemaliges Mitglied durch niedrigere Arbeits- und Umweltstandards die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Unternehmen unterläuft. Diese Bedingung des zollfreien Marktzugangs hat aber auch wichtige Souveränitätsgründe, da die EU ursprünglich wollte, dass die Briten sich verpflichten, EU-Standards vor allem im Bereich des Arbeitsrechts und der Umweltregulierung beizubehalten, und auch in Zukunft sich an etwaige verschärfende EU-Standards in diesen Bereichen anzupassen – unter Aufsicht der EuGH. Für die EU war es besonders wichtig, einem künftigen geographisch nahen Konkurrenten keinen leichteren Marktzugang zu erlauben als Ländern, die sich zur Einhaltung der EU-Standards verpflichtet haben, z.B. Schweiz und Norwegen.
Die Briten wollten in ihren Großmachtfantasien als frühere Weltmacht (welche noch immer stark in vielen Köpfen präsent sind) nie verstehen, dass sie mit der EU nicht von gleich zu gleich verhandeln können, dass ihre Wirtschaftskraft nur ein Sechstel jener der EU ausmacht, dass sie fast 50% ihrer Warenexporte in die EU liefern, während die EU nur etwa 15% ihrer Exporte nach Großbritannien liefert. Und sie wollten nicht verstehen, dass sie selbst den bisher unerhörten Schritt des EU-Austritts – gegen den Willen der anderen 27 – beantragt und betrieben haben. Es geht bei diesem Abkommen ja nicht um ein neu zu schließendes Abkommen von bisherigen Nicht-Partnern, sondern um die Regelung für die Zukunft zwischen dem größten Wirtschaftsblock der Welt und einem früheren Mitglied. Realistischerweise konnten die Briten nicht erwarten, dass sie nach ihrem selbst gewählten Austritt dieselben Privilegien haben könnten wie als Mitglieder. Die Tatsache, dass die Briten die Vorteile von etwa 60 EU-Handelsverträgen mit anderen Ländern verloren und bei den von ihnen abgeschlossenen bestenfalls die Bedingungen der EU erreichen konnten, zeiht Johnson‘s grandioser Propaganda vom „Global Britain“ der Illusion.
Johnson hatte in diesen Verhandlungen einen Abtausch zwischen „Souveränität“ – einer Rückkehr zu einem ländlichen England als Weltmacht – und den ökonomischen Vorteilen des „Tsunami an Modernität“, höherer Effizienz in der EU, zu entscheiden. Letztlich gewann die Souveränität. Die Auswirkungen dieser Entscheidung werden für die Briten Johnson‘s beabsichtigtes Erbe für die Geschichtsbücher überdecken. Die ständige EU-Drohung, bei Verletzungen des regulatorischen Gleichklangs Strafzölle zu erheben, werden künftige Begleiter vieler Entscheidungen sein. Die Suche, nach den Ersatzmärkten für die verlassene EU („global Britain“) wird haarig.
Traurige Wirtschaftsaussichten
Die dünne Mehrheit des 2016 Referendums hat bekommen, was sie wollte, und was durch die letzte Parlamentswahl 2019 (deren Wahlslogan der Tories sich ausschließlich auf den Austritt bezog „Get Brexit Done!“) mit großer Mehrheit bestätigt wurde: sie sind draußen, haben sich vom Binnenmarkt und der Zollunion der EU abgemeldet und können ihre Wunschfantasie leben. Die Prognosen der britischen Regierung selbst sagen voraus, dass mit dem geschlossenen Abkommen das britische Nationalprodukt nach ein paar Jahren um ca. 4% niedriger sein wird als ohne Austritt. Ohne Abkommen wären es nach diesen Prognosen minus 6% gewesen. Die verwendeten Modelle für diese Schätzungen beruhen auf heroischen Annahmen und sind mit äußerster Unsicherheit behaftet, da solche Berechnungen nicht auf Erfahrungen der Vergangenheit aufbauen können. Zeitnähere Schätzungen (OECD Outlook December 2020, aber noch vor dem derzeitigen Lockdown) sagen aber bereits, dass Großbritanniens Nationalprodukt im Jahr 2020 um einiges stärker gesunken ist als jenes der Eurozone (-11.2% vs. -7.5%) und im Jahr 2021 weniger stark zunehmen wird (+3.6% vs. +4.2%). In diesen Daten sind natürlich die bis damals sichtbaren Auswirkungen der Coronakrise enthalten, die sowohl die EU als auch Großbritannien massiv betreffen. Es ist analytisch unmöglich, die Effekte der beiden „Schocks“ zu trennen. Allenthalben bestehen auch Vermutungen in Großbritannien, dass Premier Johnson, der Britannien „blühende Zukunft“ versprochen hat, die negativen Auswirkungen des Austritts auf die Wirtschaft hinter den Auswirkungen von Corona „verstecken“ wird. Inwieweit die britische Bevölkerung dies alles so hinnehmen wird, bleibt abzuwarten.
Mehr Bürokratie und andere Handelshemmnisse
Der Handelsvertrag, der allein fast 600 Seiten umfasst, mit den ganzen Annexen aber mehr als das Doppelte, regelt eine ganze Reihe von Bereichen minutiös. Dennoch bleiben viele Fragen offen, die erst in den nächsten Monaten und Jahren verhandelt werden müssen. Dabei geht es um Flug- und Landerechte, um die Frage, wie viele Ladeorte EU-Lastwagen in der EU anfahren dürfen, um die Frage, wie viel Drittlandinhalt ein „britisches“ Produkt enthalten darf, um noch als britisch zu gelten und damit zollfrei in die EU eingeführt zu werden, um den Zugang zu Finanzdienstleistungen und vieles andere mehr. Jedenfalls täuscht das Frohlocken der britischen Regierung, dass es gelungen sei, „nahtlos“ Waren in die EU einführen zu dürfen. Alle Warenex- und importe unterliegen Zollformalitäten, d.h. es müssen Milliarden an Zollerklärungen ausgefüllt werden, es werden an den Grenzen zumindest Stichproben gemacht werden, ob die Deklarationen dem Lastwageninhalt entsprechen, ob vor allem im Nahrungsmittelbereich die strikten Standards der EU erfüllt werden. Es werden dadurch Staus auf beiden Seiten des Ärmelkanals entstehen – was zumindest Kosten (und viel Ärger für die Frächter) verursacht. Die britische Steuerbehörde schätzt allein die administrativen Kosten der Zollformalitäten für die britische Wirtschaft auf 7 Mrd Pfund jährlich. Für die EU-Seite liegen keine Schätzungen vor, doch treffen diese Behinderungen und Kosten natürlich auch EU-Exporteure nach Britannien.
Vom Standardsetzer zum Standardunterworfenen
Bisher in den öffentlichen Diskussionen kaum beachtet ist auch folgender Problembereich. Nunmehr müssen sich britische Produzenten, die ihre neuen Freiheiten nutzen wollen, entscheiden, ob sie zu geringeren Arbeits- und Umweltstandards als in der EU ihre Waren erzeugen wollen – und damit einen Kostenvorteil vor ihren EU-Konkurrenten erreichen wollen – oder ob sie sich EU- Standards „beugen“ und einheitlich, auch für den eigenen Markt und Drittmärkte, produzieren (nach EU-Standards). Denn nur für den kleinen britischen Markt zu produzieren und dann zu anderen Standards für die EU-Exporte, ist jedenfalls kompliziert und teuer. Es war ja gerade die Schaffung des Europäischen Binnenmarkts im Lissabonvertrag, die einerseits einen riesigen Markt (15 Billionen Euro BIP, mit 450 Millionen Einwohnern) geschaffen hat und damit weltweit technische, arbeitsmäßige und Umweltstandards durchsetzen konnte. Das ist die Markt- und regulatorische Macht des weltgrößten Marktes. Diese Fähigkeit, international technische, umwelt- und gesundheitspolitische und arbeitstechnische Standards zu etablieren, „gehört“ riesigen Märkten. Diese Fähigkeit geht für GB nunmehr verloren. Es muss sich weitgehend an- passen, ohne bei den Standardentscheidungen am Tisch zu sitzen. („Souveränität“?)
Es ist auch anzunehmen, dass der Abschied von der EU die Innovationsbereitschaft vor allem britischer Mittelunternehmen beeinträchtigen wird, da der Druck des kleinen heimischen Marktes auf Prozess- und Produktinnovationen zu gering ist und die An- reize, sich im EU-Markt zu etablieren, zu gering gegenüber den Hemmnissen sind.
Vom Binnenmarkt-Paulus zum Brexit-Saulus?
Ironischerweise war es Großbritannien, das ursprünglich stark auf diesen Binnenmarkt gedrängt hatte und dort die „Vier Freiheiten“: freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr, freie Personenmobilität) verankert hat. Der britische EU-Botschafter Cockfield hatte bei seinem Amtsantritt 1985 ein Papier „Completing the internal market“ vorgelegt, in welchem die Vorteile des Binnenmarktes akribisch ausgeführt wurden. Im 1986 beschlossenen „Single European Act“ wurde dieser dann beschlossen, inklusive der darin enthaltenen qualifizierten Mehrheitsentscheidung für die Einzelbeschlüsse, auf die Großbritannien so vehement gedrängt hatte, damit nicht das Veto eines Landes das Vorhaben scheitern lassen könnte. Ebenso war es Britannien, das der EU nicht nur diesen „neoliberalen“ Turbo aufgezwungen, sondern eine ganze Reihe anderer marktliberaler Vorgehensweisen initiiert und durchgesetzt hat, darunter vor allem die Kapitalverkehrsfreiheit, da London ja als nach New York zweitgrößter Finanzplatz der Welt (zumindest bisher) mit dem größten, tiefsten und liquidesten Finanzplatz Europas hier riesige Marktanteilsgewinne lukrieren konnte. Im Gegensatz dazu hatte Britannien stets darauf beharrt, in Steuer- fragen seinen eigenen Weg zu gehen, konkret auch durch niedrige Körperschaftssteuersätze ausländische Investitionen anzuziehen
(stark unterstützt durch Irland), und hier Einstimmigkeit, also ein Vetorecht, zu verankern. Nach ursprünglicher faktischer britischer Autorenschaft des liberalen EU-Regimes im Binnenmarkt kamen den Briten, vor allem der ursprünglichen Binnenmarkt- Enthusiastin Premierministerin Margaret Thatcher, jedoch bald Bedenken gegen die EU-Bestrebungen zu einheitlichen EU-weiten Regulierungen. Thatcher argumentierte wortstark, dass es ihr selbst gelungen sei, in Großbritannien die Grenzen des Staates in der Wirtschaft zurückzudrängen, aber nicht um den Preis, nunmehr durch einen neuen „Superstaat“ in Brüssel regiert zu werden. Hier zeichneten sich bereits Abspaltungstendenzen und der Vorrang von Souveränität vor Ökonomie ab.
Finanzdienstleistungen Bitte Warten
Da es der britischen Finanzindustrie, die einen viel größeren An- teil am BIP generiert als in der Rest-EU, erstaunlicher Weise nicht gelungen ist, ihre Regierung dazu zu bringen, auch die Finanzdienstleistungen in den bestehenden Vertrag einzubauen, bleiben viele Fragen in diesem Bereich ungeklärt. Möglicherweise geht dies auf den oben beschriebenen Vorrang Johnson’s für die ländlichen Regionen vor der Metropole zurück. Die Zutrittsbedingungen für Finanzinstitutionen sollen 2021 ausgehandelt werden. Knackpunkt ist, ob die EU Großbritannien „Äquivalenzstatus“ in der Finanzmarktregulierung zugesteht (wie etwa den USA), was automatisch generellen Marktzutritt erlauben würde. Alternativ müssten Finanzanbieter in jedem einzelnen EU-Land um Lizenzen für einzel- ne Geschäftsbereiche ansuchen. Zwar hat eine Reihe von in Britain registrierten Banken und anderen Finanzdienstleistern bereits vorsorglich Filialen in Irland oder am europäischen Festland, vor allem Paris und Amsterdam (in „Europa“) eröffnet, und haben eine Reihe von Kontinentalbanken, die in London einen Sitz hatten, die- se geschlossen. Dennoch bleiben die grundsätzlichen Rechte der Finanzinstitutionen ungeregelt. Dabei geht es darum, dass die EU es nicht zulassen kann, von Institutionen finanziert zu werden, die ihrer eigenen Marktaufsicht nicht unterliegen. Zwar gibt es Stimmen, die meinen, dass der Londoner Finanzplatz aufgrund seiner Größe, der dort in Fülle vorhandenen Spezialisten und seiner Erfahrung (vor allem im Derivativhandel) für die EU unverzichtbar sei, doch lauern auf dem Festland in Dublin, Amsterdam und Paris eine Reihe von Banken darauf, zumindest Teile dieses „Kuchens“ zu übernehmen. Auch New York und Singapur reiben sich bereits die Hände und machen EU-Firmen Lockangebote.
Chancen auf Ende der neoliberalen EU?
Interessant wird es sein, ob in Zukunft die EU in der Lage sein wird, das britische „Joch“ des fast ungezügelten Marktliberalismus abzuwerfen. Zwar wird Großbritannien nicht mehr in den Ministerräten sein politikwirksames Wort erheben und seine geballte Lobbyingkraft in die Gesetzesvorhaben der EU einbringen können (zumindest nicht mehr als Mitglied), doch gibt es eine Reihe von vor allem „nordischen Hardlinern“ unter den EU-27, die ähnlich restriktive Ideen über die Wirtschaftspolitik der EU vertreten wie Großbritannien. Auch die EU-Kommission scheint weitgehend dieses Dogma verinnerlicht zu haben.
Dennoch könnte es eine Chance für fortschrittlichere wirtschaftspolitische Ansätze geben, wenn sich stärker an gesellschaftlichem Wohlergehen und Schonung der Umwelt interessierte Kräfte zusammentun, um einige der Auswüchse der EU-Wirtschaftspolitik, an deren Spitze den unseligen Stabilitäts- und Wachstumspakt abzuschaffen. Allerdings sind diese Kräfte bisher in der EU nur sehr spärlich vertreten. Dennoch: Der kürzliche Abschluss des mittelfristigen EU-Rahmenbudgets mit seinem Next Generation Wiederaufbaufonds gibt einen Schimmer der Hoffnung. Die dies ermöglicht habende Kehrtwendung Deutschlands, die eine gemeinsame Finanzierung dieses Fonds in Gang setzt und damit den lautstarken Verhinderern einer „Schuldenunion“ zumindest teilweise das Wasser abgegraben hat, ist zumindest ein kleiner Lichtblick, auf dem es aufzusetzen gilt. Wie dauerhaft dieser scheinbare Sinneswandel Deutschlands (und anderer) ist, bleibt abzuwarten. Die mit dem Wiederaufbaufonds verbundenen Kautelen (einmalig, kurzfristig, Haftungsteilung) dämpfen die obige Hoffnung. Dennoch ist es sinnvoll, weiterhin mit Lobbying und Aktion für eine EU-Wende („Transformation“) in der Wirtschaftspolitik zu kämpfen.
Kosten für die EU
Möglicherweise deutet der Brexit darauf hin, dass die EU den Gipfel ihrer territorialen Ausweitung überschritten hat. Die Stagnation bei weiteren Beitrittsverhandlungen würde dies bestätigen. Die Schwierigkeiten, die EU nach den letzten Beitritten seit 2004 zusammenzuhalten, sowohl von der Zahl der Mitglieder als auch von deren Wirtschaftsstärke und Demokratieverständnis her, hat jedenfalls den Enthusiasmus vieler nach weiterer Erweiterung gedämpft. Bereits jetzt bestehen mehrere konzentrische Kreise, denen nur einige EU-Mitglieder angehören (Schengen, Eurozone, Sozialprotokoll). Damit wird der Zusammenhalt der Mitglieder schwächer. In Zukunft müssen die EU-27 jedenfalls immer darauf schielen, ob nicht ein anderes Land Großbritannien folgen könnte. Zweifellos ist der EU-Austritt Großbritanniens eine signifikante Schwächung der EU. Weniger in ökonomischer Sicht, obwohl auch hier das Gewicht der EU in der Welt geringer wird, als in geopolitischer Sicht. Dies ist auch durch mögliche Sicherheitskooperationen und andere Absprachen nicht korrigierbar. Auch für die EU-BürgerInnen ist der Austritt schmerzhaft: die Reise- und Arbeitsfreiheit ist weg, die Ansiedlungsfreiheit ist weg, der Austritt aus dem Erasmusprogramm wird Tausende StudentInnen um ein erwünschtes Studium in Großbritannien bringen. Auf EU-Exporteure kommen Kosten, Durchbrechung von etablierten Lieferketten, Wartezeiten und Bürokratie zu. Und die Idee eines immer stärker ideell und politisch zusammenwachsenden Europas hat einen kaum gutzumachenden Schaden erlitten.
Boris „Allein zu hause?“
Für Britannien kommt neben den oben beschriebenen Problemen noch die Gefahr der Auflösung des Vereinigten Königreiches dazu. Ich habe bereits anlässlich der Approbierung des Austrittsreferendums im britischen Unterhaus getitelt „David allein zu Hause“, da schon die Ankündigung und erst recht das Resultat des Referendums (Schottland stimmte überwiegend für Verbleib) und erst recht der Austrittsvertrag und der neue Handels- und Sicherheits- vertrag die Chance einer Abspaltung Schottlands, eine Kündigung des 300 Jahre alten Gemeinschaftsvertrags, deutlich erhöht. Die schottische Premierministerin hat schon ein zweites Referendum über den Verbleib Schottlands in Großbritannien als Wahl- kampfthema angekündigt und wirbt bereits für die Mitgliedschaft Schottlands als selbstständiges Land in der EU. Und dazu kommt noch Nordirland, das in den jetzigen Verträgen eine Zwitterrolle zugesprochen bekommen hat, und damit Mitglied in zwei Binnenmärkten ist: im Vereinigten Königreich und in der EU. Die virtuelle EU-Grenze verläuft in der Irischen See und wird sowohl den Handel Nordirlands mit der EU (vor allem der Republik Irland) als auch mit England erschweren. Trotz aller konfessions- und sozial geprägten Risse in Nordirland wird die derzeitige Situation Nordirland stärker an die Republik Irland heranführen.
Was das dann für Johnson‘s „Souveränität“ bedeutet, erinnert an Diogenes, der Alexander dem Großen antwortete, als der ihn fragte, ob er einen Wunsch habe: „Geh mir aus der Sonne“. Viel- leicht hätte Boris Johnson, als er vom EU-Verbleib-Befürworter zu dessen wortgewaltigem (und Referendum-entscheidenden) Gegner umschwenkte, sich in diesem Sinne an ein weiteres Wort erinnern sollen: si tacuisses, philosophus mansisses: Hättest Du geschwiegen, wärest Du ein Philosoph (Johnson?) geblieben. Wann diese UK-internen Auflösungstendenzen Wirklichkeit werden sollten, wird Johnson Geschichte sein.
Lektionen aus den vier qualvollen Jahren
Langwierige und schwierige Verhandlungen haben zu 1.300 Seiten minuziöser Details geführt (wie in jedem Handelsvertrag). Für Britain wird es aus ökonomischer Sicht immer wieder gelten, die Vorteile zollfreien Handels in ihren größten Handelspartner mit den möglichen Nachteilen von durch regulatorische Unterbietung der EU Standards drohenden Strafzöllen abzuwägen. Dies wird nicht nur Waren sondern auch Finanzdienstleistungen (hier geht es nicht um Zölle, sondern um regulatorische Hürden) betreffen. Und all dies ist gegenüber den eher symbolischen Souveränitätsgewinnen abzuwägen. Für die EU bedeutet Brexit eine „Erbsünde“, die möglicherweise auf andere Mitglieder übergreifen kann. Vielleicht gibt dies der EU für die geplante Zukunftskonferenz einen Ansporn, die „Verfassung“ der EU in Hinblick auf BürgerInnennähe, auf Zukunftsorientierung und auf Funktionsfähigkeit zu überprüfen.
Das eben abgeschlossene Handels- und Kooperationsabkommen stellt jedenfalls keinen „Abschluss“ dar. Viele Fragen bleiben offen und werden uns alle noch lange beschäftigen.