Lernen, genau zu lesen und beim Wort zu nehmen (Newsletter 90/2024)

von Dieter Segert

Die Rede des russischen Präsidenten vor leitenden Mitarbeitern des russischen Außenministeriums erweckt zuerst den Eindruck von Normalität, einer wiederholten Zusammenkunft, die letzte fand im Herbst 2021 statt. Dazwischen aber begann der Krieg. Und in Kriegszeiten ist nichts normal.

An wen ist die Rede gerichtet? Sicher an die politische Klasse des eigenen Landes und an die mit dem Regime verbundenen, dieses unterstützenden Mitglieder der „Dienstklasse“, welche eine vermittelnde Funktion zwischen herrschender Gruppe und der Bevölkerung verwirklicht. Die Rede entwickelt ein Narrativ, welches die durch den Krieg entstandene Situation Russlands legitimieren soll. Danach richtet sie sich an die verbündeten Staaten, die in der entstehenden neuen, multipolaren Weltordnung als aufstrebend begriffen werden.

An einigen Stellen drängt sich dem unbefangenen Leser der Eindruck auf, Putin argumentiere demagogisch. Er will mit halbwahren und halbfalschen Argumenten überzeugen. Diese Argumente sind nicht ganz ohne Wahrheitsgehalt, denn sie sind an mitdenkende Mitbürger gerichtet, nicht an hinterhertrottende Schafe. Aber es bleibt eine einseitige Interpretation der Faktenlage, etwa dann, wenn er über das Ende des zweiten Maidans 2014, die Annexion der Krim 2024 spricht oder aber wenn er die Völkerrechtslage im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo als Begründung für die anrüchigen Referenden in den beiden Regionen des Donbass nimmt. Diese Art von Erzählung gipfelt in folgender These: „Russland hat den Krieg nicht begonnen, es ist das Kiewer Regime, das, nachdem die Bewohner eines Teils der Ukraine gemäß dem Völkerrecht ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, die Kampfhandlungen begann und sie fortsetzt.“[1]

Von diesem, offenkundigen Zweck der Rede will ich in meinem Kommentar zu ihr jedoch absehen. Einseitigkeiten sind auch in den Meldungen unserer Medien und Politiker in Kriegszeiten nicht selten, was man zum Beispiel in der Einschätzung des Staatengipfels auf dem Luzerner Bürgenstock sehen kann.[2]  Wichtiger noch ist, dass die Aufrufe zu Verhandlungen für eine Beendigung des Krieges überwiegend aus den Reihen der Bürgergesellschaft kommen, weniger hingegen aus dem Mund unserer Politikern. Und den häufigen Behauptungen von deutschen Politikern, man könne den Frieden einfach dadurch erreichen, dass Russland seine militärischen Aktivitäten einstellt und sich von den eroberten Gebieten zurückzieht, haftet ebenfalls ein demagogischer Geschmäckle an.

Was aber ist ansonsten von diesem öffentlichen Auftritt des russischen Präsidenten wichtig? Aus meiner Sicht sind es drei Punkte:

Erstens, in ihm wird deutlich, dass sich die russische Führung von westlichen Politikern hintergangen fühlt. Das gilt nicht nur für das (nur mündliche) Versprechen, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnt, sondern auch für das Telefonat des damaligen US-Präsidenten Obama mit Putin am 21. Februar 2014, dem Tag der Unterzeichnung der Übereinkunft zwischen ukrainischer Opposition und dem damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, von dem er in seiner Rede berichtet,[3] sowie für den empfundenen Wortbruch der deutschen Kanzlerin und des französischen Präsidenten bezüglich der Minsker Abkommen.[4] Nun sollte man natürlich darauf hinweisen, dass sich auch westliche Politiker durch Putin belogen fühlen. Aber aus beiden Gefühlen des Betrogenseins kann man doch folgern, dass das gegenseitige Vertrauen ernsthaft zerstört worden ist. Und dass es sicher dringend nötig ist, es durch ernsthafte Diplomatie wieder aufzubauen. Eine Ordnung gemeinsamer Sicherheit zwischen Staaten mit gegensätzlichen Interessen setzt Vertrauensbildung unbedingt voraus.

Zweitens, das konkrete Friedensangebot der russischen Seite ist vergiftet. Frieden erst nach Rückzug der ukrainischen Truppen aus den teilweise durch russische Truppen besetzten und durch Russland annektierten Regionen ist nichts weiter als ein Angebot zur Verlängerung des Krieges, wie die oppositionelle ukrainische Zeitung „Strana“ zu Recht feststellte. „И „формула Зеленского“, и озвученная сегодня „формула Путина“ – это не формулы мира, а формулы продолжения войны. [Sowohl die ‚Friedensformel Selenskis‘ als auch die heute geäußerte ‚Formel Putins‘ sind Formeln der Fortsetzung des Krieges, Übersetzung D.S.]“ Aber wer die russische Seite tatsächlich testen wollte, so die Zeitung, der sollte den Vorschlag eines unverzügliche Waffenstillstandes, des Einfrierens der Frontlinien und des Beginns von Verhandlungen für einen dauerhaften Frieden auf die Putinsche Äußerung folgen lassen.[5]

Drittens, auszutesten wären ebenfalls die Vorschläge des russischen Präsidenten für eine eurasische Friedensordnung, eines „unteilbaren Systems der eurasischen Sicherheit“. Dieser Vorschlag für eine Ordnung gemeinsamer Sicherheit in Europa und Asien, welche auf den Trümmern der vernichteten europäischen Friedensordnung aufgebaut werden muss, wird an zentraler Stelle des Textes erwähnt und zum Schluss wiederholt.[6] Der Krieg in der Ukraine muss zuerst beendet werden, die Waffen müssen schweigen, das Töten und Zerstören muss aufhören. Die Ukraine muss in friedlicher Arbeit wieder aufgebaut werden, bei Sicherung der kulturellen Autonomie aller Minderheiten, auch der russischsprachigen Ukrainer. Dann aber müssen Verhandlungen beginnen, die auf eine dauerhafte Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Staaten der Region hinauslaufen, der Ukraine, der baltischen Staaten, Polens, Moldaus, Georgiens, Armeniens, ebenso wie denen Russlands. Vertrauensbildende Maßnahmen müssen diesen Prozess vorausgehen und begleiten. Über Konzepte wie strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und Begrenzung sowie Abbau von Atomwaffen, bis hin zu deren gänzlichen Verbot, muss ernsthaft gesprochen werden.[7] Die Alternative dazu ist eine Vertiefung der begonnenen Blockbildung USA („der Westen“) versus China („der globale Süden“), die anhaltend drohen würde, in einen Dritten, atomaren Weltkrieg über zu gehen.

So würde ich vorschlagen, die Rede Putins am 14. Juni 2024 zu interpretieren, also ernst zu nehmen.


[1] Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung der Rede des russischen Präsidenten im Außenministerium des Landes vom 14.6.2024, die auf der Homepage des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten der russländischen Föderation veröffentlicht wurde, hier S. 14, Link: https://mid.ru/print/?id=1957107&lang=de (aufgerufen am 20.06.2024)

[2] Etwa in der Sendung der ZIP 2 am Abschlusstag des Gipfels, in der von der Nachrichtensprecherin fälschlicherweise behauptet wurde, 83 Staaten hätten die Abschlusserklärung unterzeichnet- es waren nur 78. 15 anwesende Staatenvertreter unterzeichneten nicht, darunter vor allem die wichtigen anwesenden Vertreter des globalen Südens. Das wird in der Nachricht nicht erwähnt. Dem Interview Christian Wehrschütz‘ ist es zu verdanken, dass die Probleme des Gipfels in der Sendung überhaupt zur Sprache kamen.

[3] Siehe S. 26 der Rede.

[4] Auf S. 15 ist davon die Rede: „Sie haben uns einfach wieder einmal betrogen“.

[5] Siehe „Strana“ vom 14.6.24., „Что означают условия Путина по переговорам с Украиной? [Was bedeuten die Bedingungen Putins für Verhandlungen mit der Ukraine? – deutsch D.S.]“, Link: https://ctrana.news/news/466664-chto-oznachajut-uslovija-putina-po-perehovoram-s-ukrainoj.html

[6] Siehe die Rede S. 4, S. 6 ff, S. 28.

[7] Zusammen mit Peter Brandt habe ich meine Position in dieser Frage ausführlicher im Kapitel 4.2. eines von uns und Gerd Weisskirchen herausgegebenen Buches dargestellt: Peter Brandt et al: „Doppelter Geschichtsbruch“ Bonn: Dietz 2024.