Politische Kultur im Wandel?
Ein Kommentar von Heinrich Neisser
Die Zweite Republik wird im Allgemeinen als Periode einer besonderen Stabilität angesehen. Das österreichische politische System ist geprägt von demokratischen Strukturen, die weitest- gehend einen politischen Konsens und einen sozialen Ausgleich gewährleisten. Die Spielregeln der politischen Kultur ermöglichten ein konsensorientiertes Austragen sozialer und politischer Konflikte. Der Pluralismus der Gesellschaft war Ausdruck einer Diversität, die Polarisierungen nur beschränkten Raum ließ und Radikalisierungen entgegenwirkte.
Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre verstärkten die Erkenntnis, dass sich auch in Österreich ein erheblicher Wandel der politischen Kultur ereignete. Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine Ursache liegt darin, dass die SPÖ und die ÖVP, die in jahrelangen Koalitionsregierungen einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung des österreichischen Gemeinwesens geleistet haben, zum Regieren nicht mehr fähig waren. Sie agierten als Machtkartelle in einer Blockadepartnerschaft.
Im Gefolge der Partnerschaftsunfähigkeit der traditionellen Koalitionspartner ergab sich innerhalb der ÖVP die Chance für eine Jugendrevolte, die Sebastian Kurz zum Hauptakteur des politischen Geschehens machte. Die Chance, dass die Österreichische Volkspartei unangefochten die Mehrheit erlangt, führte im Kreis
ihrer Stammwähler und Sympathisanten zu einer Begeisterung, die im Erringen der politischen Macht und der Aufrechterhaltung derselben ein zentrales Ziel jeglicher Politik sah bzw. sieht. Meinungsumfragen bestätigen dies ständig.
Dass damit eine Ära der österreichischen Politik begann, in der erhebliche Veränderungen und auch Defizite der politischen Kultur offenbar wurden, wurde im öffentlichen Diskurs kaum wahrgenommen und kritisch thematisiert. Die folgenden Ausführungen versuchen, anhand einiger Beispiele die Mutationen der politischen Kultur in Österreich deutlich zu machen.
Seit dem Jahr 2017 regieren in Österreich Koalitionsregierungen, die für sich in Anspruch nehmen, eine neue Ära, einen neuen Weg in eine Zukunft zu eröffnen. An der Spitze der Koalitionsregierung zwischen der ÖVP und der FPÖ vom 18. Dezember 2017 stand Sebastian Kurz als Bundeskanzler ebenso an der Spitze einer Koalitionsregierung zwischen ÖVP und Grünen, die am 7. Jänner 2020 ihr Amt antrat.
Das Regieren mit der FPÖ war für die ÖVP nichts Neues. Allerdings war zwischen der Koalition im Jahr 2017 ein erheblicher Unterschied gegenüber der ÖVP-FPÖ-Regierung im Jahr 2000, die noch europäische Reaktionen hervorrief. Kurz und sein Team waren von der Mitte nach rechts gerückt und hatte dadurch mehrere inhaltliche Gemeinsamkeiten mit den Positionen der FPÖ. Die ideologische Wendigkeit zeigte Kurz nach zwei Jahren, als er eine Regierungspartnerschaft mit den Grünen begründete.
Beiden Regierungen (der zwischen ÖVP und FPÖ und der zwischen ÖVP und Grünen) fehlte Regierungserfahrung und eine ausreichende Erfahrung im Umgang mit der Verwaltung. Bei der Regierungsbildung spielte eine sachorientierte Kompetenzverteilung zwischen den Ministern keine Rolle. Das Innenministerium entwickelte sich zu einer Krisenzone, in der offenkundige Fehlentwicklungen seit längerer Zeit sichtbar wurden. Die BVT-Diskussion (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung) illustriert die Problematik deutlich. Der Prozess der Verpolitisierung der öffentlichen Verwaltung schritt weiter fort. Die Generalsekretariate wurden in den Ministerien zum politischen Transmissionsriemen. Die Ministerkabinette, ein Kollektiv von Parteigängern, Weggefährten, karrierewilligen jungen Menschen und Aspiranten mit unterschiedlicher Qualifikation wurden ständig vergrößert und zu einem Bedrängnis der professionellen Bürokratie. Dazu kam die steigende Tendenz der Regierung, sich Informationen durch Aufträge von außen zu holen. Über diese Studien fand kaum eine öffentliche Diskussion statt, in parlamentarischen Anfragen dazu wurde die inhaltliche Antwort verweigert.