Newsletter 83/2022
Von Gut und Böse in der Weltpolitik
Wie viele internationale Experten befürchtet haben, scheint sich der durch die russische Aggression ausgelöste Ukrainekrieg zu einem länger anhaltenden Abnützungskrieg zu entwickeln. Der von Russland offensichtlich erhoffte Blitzsieg hat sich nicht zuletzt aufgrund der Unterschätzung der Widerstandskraft der Ukraine, der massiven Waffenlieferungen der USA und anderer NATO-Staaten aber auch der Überschätzung der eigenen militärischen Stärke als Illusion erwiesen. Je nach politischem Standort halten westliche und russische Akteure inzwischen einen Sieg für die jeweils eigene Seite für möglich. Während westliche Experten und Kommentatoren einen wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch Russlands erwarten, setzen Russland und seine Lobbyisten darauf, dass die massive militärische und vor allem auch wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung der westlichen Staaten – vor allem wegen der hohen Kosten der Sanktionen und dem sich daraus ergebenden Widerstand in Europa – allmählich ins Wanken geraten könnte. Inzwischen sollte es allen einigermaßen rationalen Elementen im Westen und im Osten klar sein, dass eine Rückkehr zum business as usual ausgeschlossen ist.
Trotz der von beiden Seiten betriebenen und bislang auch recht erfolgreichen Propaganda und Desinformation gibt es inzwischen zunehmend kritische Stimmen. Vor allem im Westen melden sich verstärkt Persönlichkeiten zu Wort, welche Zweifel an der Rechtfertigung und der Vorgangsweise formulieren. In Russland ist Kritik natürlich angesichts der diktatorischen Gegebenheiten kaum möglich, es scheint sie aber dennoch zu geben.
Ich leite mit dem heutigen Newsletter drei Dokumente, alle westlicher Herkunft, weiter, welche mehr oder minder deutliche Kritik an der westlichen Vorgangsweise äußern. Es ist dies zunächst eine Stellungnahme des deutschen Publizisten und langjährigen ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Todenhöfer („Die wechselnden Feindbilder des Westens“), dann ein in „foreignpolicy“ publizierter Artikel des bekannten US-amerikanischen Politikwissenschafters Stephen M. Walt („Does Anyone Still Understand the ‚Security Dilemma‘?“) sowie ein aktueller Bericht der New York Times über einen einstimmigen Beschluss des US-Kongresses, Russland auf die Liste Terrorstaaten („state sponsor of terrorism“) zu setzen, einer Liste der bislang Kuba, Iran, Nord-Korea und Syrien angehören. Die Kritik Todenhöfers und Walt’s, die beide die russische Aggression absolut verurteilen, befasst sich vor allem mit der seit Jahrzehnten widersprüchlichen und auf die eigene globale Dominanz ausgerichteten Politik der USA. Der der realistischen Schule der US-amerikanischen Politikwissenschaft angehörende Stephen Walt verweist zurecht darauf, dass man im Rahmen der internationalen Beziehungen sehr wohl auch die Interessen der jeweiligen „anderen Seite“ in Betracht ziehen sollte, wie dies z.B. auch Kennedy und Chrustschow bei der Kubakrise getan haben. Derartige Überlegungen seien der US-Außenpolitik in den vergangenen Jahren weitgehend abhanden gekommen und nicht erst seit Donald Trump.
Zwei wichtige Stellungnahmen, welche zum Nachdenken anregen sollten.
Mit besten Grüßen!
Fritz Edlinger
Herausgeber und Chefredakteur
Links:
Jürgen Todenhöfer über die wechselnden Feindbilder des Westens