Lieber Volkskanzler Kickl fressen, als Geld liegen lassen

Ein Kommentar zu den Koalitionsverhandlungen von Dr. Wilhelm Reichmann, Redaktionsmitglied der INTERNATIONAL und ehemaliger Gemeinderat in Purkersdorf.

Sofern man die Kanzlerfrage klären könne, dränge sich doch eine solche Koalition doch förmlich auf, schreibt Franz Schellhorn, Direktor der von den Industriellen finanzierten Agenda Austria, so frei von der Leber in der Presse. Recht hat er, denn es wäre doch logisch. Mit der SPÖ als Partner droht nur Ungemach: Beiträge der Wohlhabenden zum Defizit-Abbau, Widerstände gegen den breiten Angriff auf Sozialausgaben, gegen die „Attraktivierung des Standortes“, gegen Kürzungen im Gesundheitswesen und bei Klima-Subventionen, gegen Gehaltssteigerungen unter der Inflationsrate, gegen Einbremsung der Pensionsausgaben und vieles mehr. Kurzum, weitere Verschiebung der Lohnquote nach unten, direkte und indirekte Verbesserungen für die Kapitaleinkommen, plant die kommende Regierung.

In Überschriften wird das Reformkoalition und Modernisierungsschub genannt. In seinem Presse-Artikel verdeutlicht sich die die Geilheit dieses Kapitalismus-verliebten Ideologen:
„Die Ausgangslage könnte günstiger nicht sein, die Wirtschaftsprogramme der drei Parteien sind nahezu deckungsgleich, mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit hätten sie alle Chancen, ihre Forderungen kompromisslos in die Tat umzusetzen. Alle drei Parteien fordern eine Entlastung des Faktors Arbeit (Synonym für Reduktion der Sozialversicherungsbeiträge und in der Folge der Leistungen daraus, Anm. WR) mehr wirtschaftliche Freiheit, einen schlankeren Staatsapparat und eine Modernisierung (sic!) der überlasteten Sozialsysteme. Mit einem neutralen Kanzler an der Spitze wäre der Weg für spürbare Reformen endlich frei.

„Die Voraussetzungen wären geradezu ideal: eine bürgerliche Mehrheit im Parlament, drei reformorientierte Parteien und ein Kanzler(in), der oder die über innenpolitischen Grabenkämpfen steht. (…) Denn mit sozialpolitischen Träumen und höheren Steuern wird der Wohlstand nicht zu halten sein“, schreibt Schellhorn.

Die Kanzlerfrage war zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Kommentar da noch ungelöst und Kickl als Kanzler noch nicht akzeptiert – nun passt es mit dem neuen, „neutralen“ (Volks)Kanzler, den sich Schellhorn wünscht. Staatspolitische Verantwortung und andere schwülstige Phrasen sind schnell vergessen, wenn die ÖVP die Interessen ihrer Kernschichten wahren und ihre Macht erhalten kann.
In der ÖVP haben Industriellenvereinigung, Wirtschaftskammer und Wirtschaftsbund Nehammer klar gemacht, dass Kompromisse mit den Sozialdemokraten aus Partei und Gewerkschaft nicht vorrangig seien, wenn die Chance besteht, das ganze Programm durchzubringen. Nehammer hat sich nicht einigen dürfen, die harte Linie aber auch nicht mittragen wollen, deshalb sein Rücktritt.

Lieber Kickl als Kanzler fressen als Geld am Tisch liegen lassen. Das hat schon unter Schüssel und Kurz funktioniert. Die ÖVP ist mit dem Steigbügelhalter FPÖ immer gut gefahren, hat lange Zeit harmonisch ihre gemeinsamen Vorstellungen durchgebracht – bei allen Pannen zum Schluss. Die FPÖ ist eine Schlawiner-Partei, und irgendwann kommt ihr Charakter durch und das Ganze endet mit Skandalen und Korruptionsaffären.

Lange war die ÖVP wie die Spinne im Netz der österreichischen Innenpolitik: immer dabei, gefräßig und scheinbar nicht zu umgehen. Wäre es nicht die eigentliche Reform, der Fortschritt schlechthin, wenn diese Partei endlich von der Macht ausgeschlossen würde?

Zugegebenermaßen, ich habe mich gefreut darüber, wie Kickl die ÖVP gleich gedemütigt hat, als er sie quasi gnadenhalber zu Koalitionsgesprächen eingeladen hat und klargestellt hat, dass sie Juniorpartner sind und keine Tricks versuchen sollen. Und wie Stocker bemüht war, Kickl zu besänftigen. Genüsslich anzuschauen, aber es ändert nichts am Programm der kommenden Koalition und den sich anbahnenden Grässlichkeiten.

Damit ist auch klar, warum aus den Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und SPÖ nichts werden konnte, ohne dass die Sozialdemokraten sich in einen massenfeindlichen und antisozialen Kurs eingefügt hätten. ÖVP und NEOS hätten den Reichen und Konzernen ihre Wünsche erfüllt und hätten sich vor den Vorwürfen, die FPÖ an die Regierung gelassen zu haben, geschützt. Diese bürgerliche Traumvariante der beiden Parteien ist geplatzt. Nehammer konnte oder wollte den Plan der radikalen, kapitalfreundlichen Offensive nicht mittragen, oder vielleicht nur die Demütigung durch die Kickl-FPÖ nicht ertragen.

Babler war offensichtlich überzeugt, unterstützt von den Gewerkschaftern und der Mehrheit in seiner Partei, er müsse Kurs halten und dürfe nicht um einer Regierungsbeteiligung willen alle Forderungen nach mehr Chancen-, Einkommens-und Vermögensgleichheit in der Gesellschaft opfern. Das war grundrichtig.

Wie soll die Sozialdemokratie Ansehen zurückgewinnen ohne, dass sie sich auf ihr soziales Versprechen rückbesinnt? Nur so kann sie ihren potenziellen Wählern die verräterische Natur der FPÖ vor Augen führen. Sie muss bürgerliche Politik für alle kenntlich machen und sich davon abgrenzen.

Teile der arrivierten Funktionäre scheinen aber schockiert und sehen ihre Posten davonschwimmen. Sie verstecken sich hinter Unkereien über schlechten Verhandlungsstil und angeblicher Kompromissunfähigkeit der Führung um Babler. Die Partei darf aber nicht für die Karrieren einzelner da sein, sondern für die soziale, solidarische Gestaltung der Gesellschaft.

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