Kommen die Russen?
Von Susanna Böhme-Kuby
Die aktuelle antirussische Propaganda hat ferne Ursprünge, die für Deutschland mindestens bis in den Ersten Weltkrieg zurückreichen. Der imperialistische Appetit – bereits im gesamtdeutschen Programm zur Eroberung des Ostraums (1891) definiert – erstreckte sich ab 1917 explizit auf das bolschewistische Russland, wobei die militärische Intervention der vereinigten westlichen Nationenunterstützt wurde, die „die Sowjetregierung stürzen, durch eine konstitutionelle Regierung ersetzen und die russische Wirtschaft (…) durch die massive Intervention der europäischen Industrien wiederherstellen“ sollte. (s. Programm des General Hoffmann, zitiert von Ernst Niekisch, Die Legende von der Weimarer Republik,1969, S. 37 ff.)Das gelang damals nicht, die vereinten konterrevolutionären KräfteEuropas wurden erst 1921 in die Flucht geschlagen und danach nahmen die Maßnahmen Lenins zur Sowjetisierung des riesigen Landes ihren Lauf – ohne deutsche Unterstützung, auf die die Bolschewiki vergeblich gesetzt hatten. Und im darauffolgenden Jahrzehnt rühmten sich die Nazis, den Bolschewismus 1933 in Deutschland verhindert zu haben, umanschliessend von Deutschland aus den Kampf gegen den Weltbolschewismus fortsetzen zu können.
Der zweite fehlgeschlagene deutsche Versuch (1939-1945),die Vorherrschaft in Europa zu erlangen, erwies sich denn auch in vielerlei Hinsicht vor allemal deutsch-russischer Konflikt, der letztlich die sowjetischen Kräfte fast völlig erschöpfte, als sie die deutschen Truppen von kurz vor Moskau bis nach Berlin zurückdrängen konnten.Churchill stellte 1943 fest, dass damals“die westlichen Alliierten mit 6 deutschen Divisionen ’spielten‘, während die Russen mit bis zu 185 deutschen Divisionen konfrontiert waren“, (zitiert nach: David Horowitz,Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, dt. 1969, p. 36). Und der zweite Weltkrieg endete 1945 anders als der erste. Es gab keine Matrosenaufstände, Barrikaden oder revolutionäre Umsturzversuche, sondern alle Völker waren weitgehend erschöpft und die siegreiche Anti-Hitler-Koalition konnte unter US-Führung eine neue Weltordnung durchsetzen.Zwischen den beiden Großmächten, die schon in Jalta im Begriff waren, die Welt in zwei weitreichende Einflusssphären aufzuteilen, gab es jedoch nichtannähernd ein wirtschaftliches Gleichgewicht. Ebendas sollte nachhaltige politische Folgen haben.Während die UdSSR schwerste Verluste erlitten hatte, waren die USA, die ja erst spät mit ihren Truppen in den Krieg eingegriffen hatten, sowohl in ihrer militärischen als auch in der zivilen Produktion stärker als je zuvor geworden.
Es ist nötig und hilfreich zum Verständnis auch der heutigen Situation, die dominierenden westlichen Überzeugungen hinsichtlich der „demokratisierenden“ Rolle, die die USA bei dieser Neuordnung der Welt spielten, kritisch zu überprüfen und die tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen den beiden Siegermächten (USA und UdSSR) zu erkennen. Das große Gefälle zwischen ihnen prägte ihre unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen: 1945 verfügten die USA über drei Viertel des gesamten weltweit investierten Kapitals, und sogar zwei Drittel der weltweiten Produktionskapazitäten waren auf amerikanischem Boden konzentriert; die restlichen 25 % bzw. 33 % verteilten sich auf 95 % der Staaten der Welt: „Ein Land hatte ein Beinahe-Monopol in diesem für das Leben aller so wichtigen Sektor“ (Howard K. Smith, The State of Europe, 1949, S. 92, in Horowitz, op. cit. S. 66).
Die neuen Einflusszonen der USA waren bis zu 7.000 Meilen von ihrem eigenen Territorium entfernt: Sie umfassten Japan als führende Macht in Asien und Deutschland als potenziell führende Macht in Europa. Binnen 1942 waren die USA auch zur führenden Seemacht im Mittelmeerraum geworden, und schon 1946 hatten sie Truppen in 56 Ländern stationiert, und verfügten 1949 bereits über 400 Militärstützpunkte in der ganzen Welt. (zitiert nach Monthly Review, Januar 1965, in: Horowitz, op. cit., S. 75).
Die deutsche Industriestruktur war selbst nach der Kapitulation 1945 immer noch die modernste und stärkste in Europa. Die anglo-amerikanischen Bomben hatten nur etwa 7 % der westlichen Schwerindustrie zerstört. Das kam nicht von ungefähr, denn amerikanisches Kapital hatte sich bereits in den 1920er Jahren in der Weimarer Republik mit den Krediten des Dawes- und Young-Plans in der deutschen Industrie positioniert. Somit bestand die Möglichkeit, die deutsche Produktion rasch wieder in Gang zu setzen, um das Land zu einem Vorposten gegen eine befürchtete Ausbreitung sozialistischer oder sowjetischer Tendenzen zu machen. Und die daran interessierten dominierenden US-Kapitalfraktionen konnten sich gegen andere durchsetzen, die Nachkriegsdeutschland zunächst in eine landwirtschaftliche Einöde mit mehreren Kleinstaaten hatten verwandeln wollten (Morgenthau-Plan).
Die Jahre der alliierten Besatzung (1945-1949) nach den Beschlüssen des Potsdamer Abkommens bereiteten der deutschen Bevölkerung unter den vier verschiedenen Militärregimen mit ihren unterschiedlichen Entnazifizierungs- und Entdemokratisierungsmaßnahmen, mit ihren Entbehrungen und den nötigen Anpassungsversuchen an das Neue, zum Teil eine schwierigere Zeit als die Kriegsjahre selbst.Das amerikanische Besatzungsregime wurde als das am wenigsten belastende empfunden, zumal die USA nicht nur rasch finanzielle Hilfen gewährten, sondern 1948 sogar eine neue Währung, die in den USA gedruckte D-Mark, einführten, die die Reichsmark und alle Schulden weitgehend abwertete. Wie bei der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg wurde dadurch ein Großteil der Kosten des verlorenen Krieges auf die Bevölkerung abgewälzt. Die mythische Währungsreform in den Anfängen der neuen Marktwirtschaft festigte und stärkte nicht nur die bereits bestehende kapitalistische Struktur, sondern brachte den Westdeutschen bald einen nie dagewesenen Zustrom von Waren. Dies war der entscheidende Schritt zur wirtschaftlichen und politischen Teilung Deutschlands, und die Schwerindustrie an Rhein und Ruhr wurde zum Herzstück der Bundesrepublik (BRD). Die UdSSR blieb am Rande, erhielt weder die ihr in Potsdam zugesagten Reparationen, noch andere Hilfen – ihr verblieb nur das immer noch teilweise feudale Agrarland in dem von ihr besetzten Osten, das später zur Demokratischen Republik (DDR) werden sollte. Dagegen wehrte sich Stalin von Beginn an, der bis zu seinem Tod im Jahr 1953 auf der Umsetzung des Potsdamer Alliierten Abkommens bestand. Dieses sollte den Erhalt der staatlichen Einheit eines demokratischen, entmilitarisierten und neutralen Deutschlands sowie die Zahlung der mit der UdSSR vereinbarten Kriegsreparationen garantieren.
Doch schon, als mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki direkt im Anschluss an diePotsdamer Konferenz im August 1945 die Hierarchie zwischen den Siegermächten neu geordnet war, schienen die vorherigen Abmachungen zu einem großen Teil hinfällig zu sein: Die neue nukleare Monokultur verschaffte den USA in der begonnenen Truman-Ära die absolute Vorherrschaft über die ökologisch erschöpfte und materiell bis nach Moskau zerstörte UdSSR. Offizielle Statistiken sprechen von 20 bis 27 Millionen Toten und 25 Millionen Obdachlosen in fast 2.000 Städten und 70.000 Ortschaften, in denen die Deutschen etwa 6 Millionen Gebäude, 90.000 Brücken, mehr als 32.000 Produktionsbetriebe usw. niedergebrannt hatten (Daten aus D.F. Fleming, The Cold War and Its Origins,1917-1960, 1961, S. 923).
Antisowjetismus als ideologische Konstante
Mit der Gründung der BRD aus den drei Westzonen unter US-Dominanz (auch Frankreich hatte seinen anfänglichen Widerstand gegen die Teilung aufgeben müssen) im September 1949 war die ungleiche Anti-Hitler-Koalition definitiv zerbrochen und die von Churchill schon 1946 in Fulton beschworene Spaltung Europas durch einen ‘Eisernen Vorhang’ nahm ihren Lauf. Entgegen jeder realen politischen Sachlage wurde erneut eine Bedrohung des Westens durch die Sowjetunion behauptet, und die bisherige US-Strategie des ‘containment’, der Eindämmung, avancierte bald zur Forderung nach einem ‘roll back’, einem massiven Zurückdrängen jedes vermeintlichen russischen Vorstoßes.
Die wiederauferstandene Parole von der „russischen Bedrohung“ (Die Russen kommen!) im ersten Jahrzehnt der Nachkriegs-Restauration beförderte somit jenen ausgeprägten Antisowjetismus, der unmittelbar funktional für die neue Phase des Kalten Krieges und den militärisch-industriellen Komplex war, die beide nahtlos an die Propaganda der vorangegangenen Jahrzehnte anknüpfen konnten. Nicht zuletzt hatten die Nazis in den letzten Tagen ihres Tausendjährigen Reiches den nunmehr des Sieges sich unwürdig erweisenden Deutschen eine furchtbare Rache vonseiten der Sieger prophezeit – und Millionen deutscher Soldaten wussten ja, was sie den Sowjetvölkern angetan hatten…
Das alles rechtfertigte schon in den frühen 1950er Jahren die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik – die Nie-wieder-Krieg-Parole von 1945 wurde rasch vergessen gemacht, ungeachtet einer breiten parteiübergreifenden Opposition in der deutschen Bevölkerung gegen die neue Rüstung im Atlantischen Bündnis und die folgende Integration in die NATO. Das damals gegenteilige Urteil von George Kennan, einem der Leiter des US-Außenministeriums und profunden direkten Kenner der UdSSR, war eindeutig, wurde aber der breiten Öffentlichkeit vorenthalten: „Ich weiß von keiner Zeit, in der die sowjetische Regierung den Wunsch nach einer solchen Konfrontation (Krieg gegen den Westen) kultiviert oder einen Angriff in Erwartung eines Sieges des Sozialismus in der Welt als Folge eines solchen Krieges geplant hätte”. Denn in der Tat ließen die extrem harten Bedingungen der Zerstörungen und des ausstehenden Wiederaufbaus im Osten nach dem Krieg, ohne westliche Hilfe zur Behebung der umfangreichen Kriegsschäden, keinerlei Raum für solche Ambitionen. (George F. Kennan, Russia and the West under Lenin and Stalin,1961, S. 389).
Doch man ließ trotzdem das Gespenst einer möglichen russischen Invasion im Westen weiterhin über Europa schweben, auch wenn es jeden wirklichen Inhalts entbehrte. Bereits in den 1920er Jahren hatte die junge Sowjetunion ja jede internationalistische Perspektive beschränken, ja abbauen und auf den problematischen „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ reduzieren müssen. Derselbe „große patriotische Krieg“ zur Verteidigung der UdSSR gegen den Angriff Nazi-Deutschlands blieb auf die nationalen Interessen beschränkt, die auch nach dem Krieg dominierten. Die Einbeziehung der osteuropäischen Länder in die russisch-sowjetische Einflusssphäre in der Nachkriegsteilung von Jalta war dann eher eine Konsequenz des Kalten Krieges, und entsprach einem Sicherheitsbedürfnis der UdSSR, die allein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweimal vom Westen überfallen worden war, ähnlich wie auch die folgende Sowjetisierung dieser Länder (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn), als nämlich die versuchte Ausweitung der Truman-Marshall-Doktrin auf so viele Länder wie möglich die UdSSR letztlich in die Enge trieb. Denn die langfristige US-Strategie war und ist bis heute darauf ausgerichtet, jegliche euro-asiatische Annäherung, insbesondere zwischen Deutschland und Russland zu unterbinden – auch zu dem Zweck wollte man zunächst Westdeutschland unter strenger US-Kontrolle halten.
Über die Eingliederung der neuen, von Nazi-Generälen aufgebauten Bundeswehr in die NATO hielt man sich damals in der jungen BRD bedeckt und reduzierte ihre öffentliche Präsenz auf ein Minimum. Das damals stetig wachsende, noch immer große Gewicht der deutschen Rüstungsindustrie auf dem internationalen Parkett blieb eines der bestgehüteten politischen Tabus. Die jedoch wiederholten Versuche, den deutschen militärischen Einfluss innerhalb der NATO auszuweiten und Atomwaffen zu erwerben, wie es der militärisch-industrielle Komplex wünschte, wurden damals sowohl von den USA als auch von ihren europäischen Verbündeten abgelehnt. Der Kalte Krieg, der schließlich de facto zu einem atomaren Patt führte und direkte kriegerische Auseinandersetzungen ausschloss, hatte in den 1960er Jahren zumindest in Europa zu einer „friedlichen Koexistenz“ der beiden Blöcke geführt. Und die daraus folgende sozialdemokratische Ostpolitik (W. Brandt) verbesserte die Beziehungen zwar, beendete aber nicht den Grund-Konflikt mit der UdSSR. Die USA dehnten währenddessen ihre Einflusszonen in der Dritten Welt militärisch weiter aus – bis zu ihrer ersten großen Niederlage in Vietnam (1975).
Nachrüstung und vorläufiger Sieg des Westens
Kurz darauf, 1977, forderte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) angesichts eines inzwischen im Westen ausgemachten Ungleichgewichts der traditionellen Landbewaffnung gegenüber der UdSSR erneut eine massive Aufrüstungsoffensive. Der darauf erlassene NATO-Beschluss von 1979 für eine ‘Nachrüstung’ eröffnete ab Anfang der 1980er Jahre eine entscheidende Phase des Wettrüstens, im Einklang mit der US-Politik, die ihrerseits bereits eine Militarisierung des Weltraums vorantrieb. Die Stationierung neuer Erstschlagwaffen, d.h. der verschiedenen Pershing, der Cruise Missiles und der SS 20, ließ die Angst vor einer atomaren Apokalypse in Deutschland bzw. in den beiden deutschen Staaten aufleben und mobilisierte eine breite pazifistische Front in West und Ost. Man war sich einig, dass man der Aussicht auf die Vernichtung der Menschheit nicht mehr mit Konzepten des 17. Jahrhunderts, wie dem vom Krieg als Mittel zur Erreichung neuer Gleichgewichte des Friedens oder des Status quo begegnen konnte. Mit anderen Worten: Die traditionelle Trennung zwischen Politik und Moral war angesichts der Gefahren im Atomzeitalter nicht mehr haltbar. Doch dieser weitere Rüstungswettlauf hatte wiederum dem Sowjetblock ein wirtschaftlich nicht mehr tragbares Niveau an Militärausgaben aufgezwungen. Das führte Mitte der 1980er Jahre zu politischen Vorschlägen für eine umfassende bilaterale Abrüstung, die von Gorbatschow vorangetrieben wurden und die insgesamt auf eine neue Sicherheitsordnung in Europa abzielten, von den USA jedoch nicht akzeptiert wurden: Für die US-Politik stellte die damit wahrgenommene sowjetische Schwäche eher eine neue Etappe dar auf dem Weg zur Errichtung ihrer unangefochtenen Welthegemonie.
Die daran anschließende große Wende von 1989/90 setzte der in Jalta geschaffenen Weltordnung bald ein definitives Ende und erwies sich als große verpasste Chance. Rossana Rossanda bezeichnete diese Entwicklung als „Waterloo der europäischen Linken“ (il manifesto, 19.1.2003, S. 18), denn die Kapitulation der sowjetischen Welt, ihr militärischer Rückzug und die Bedeutung der Abrüstung eröffneten keinen Raum für substanzielle Überlegungen zur Befriedung, auch nicht auf Seiten der linken Parteien und Kräfte, zur Notwendigkeit einer nachhaltigen Entmilitarisierung und einer neuen Ordnung in Europa. Im Gegenteil: Der Zusammenbruch der politischen Koordinaten führte zu einem regelrechten Vakuum im kritischen Bewusstsein der Linken, abgesehen von den Wenigen, die den Fall der Mauer und der Sowjetunion nicht bejubelten. Nicht einmal der darauf folgende wirtschaftliche und soziale Niedergang der östlichen Länder wurde von der europäischen Linken mit Aufmerksamkeit verfolgt, und sogar die NATO-Erweiterung in Richtung der Grenzen Russlands schien noch weniger Besorgnis zu erregen. Luigi Pintor konstatierte denn auch in seiner letzten Kolumne in ‚il manifesto’, im Mai 2003: „Die Linke, die wir bisher kennen, ist tot.”
Nach dem Einzug des Kapitalismus mit seinen massiven Privatisierungen in der Jelzin-Ära hatte Vladimir Putin dem Ausverkauf des Landes an den Westen zu Beginn der 2000er Jahre ein Ende gesetzt und versucht, die Selbstständigkeit Russlands zu behaupten. Das nahm man ihm vor allem im Westen übel, denn eigentlich schien doch der langersehnte Weg zu den großen russischen Ressourcen endlich offen zu stehen für das internationale Kapital. Das stand Die ersten zwei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts waren fast ausschließlich von der Dominanz neoliberaler Tendenzen auch im Osten geprägt, trotz massiver ökonomischer und globaler Krisenmomente konnten sich keine stabilen Gegenkräfte formieren. Die Aufkündigung der meisten Abkommen zur Rüstungsbegrenzung durch die USA, sowie deren Einmischung in die politisch-wirtschaftliche Neuorientierung der Länder des ehemaligen Ostblocks, führten zu einer erneuten Verschärfung der Ost-West-Gegensätze.
Wieder Krieg
Die dadurch sich de facto bedroht sehenden nationalen Sicherheitsinteressen Russlands lösten dann im Februar 2022 eine unerwartet harte Reaktion Putins aus.Beim völkerrechtswidrigen Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine unterstützen auch die meisten europäischen Linken weiterhin die NATO, die seitdem eine militärische Antwort leitet, für die zunächst kein klares Ziel genannt wurde. Erst in seiner Rede zum ersten Kriegsjahrestag am 24. Februar 2023 aktualisierte Bundeskanzler Scholz (SPD) die pazifistische Maxime: „Nie wieder Krieg!“ zu: „Unser ‚Nie wieder!‘ bedeutet heute, dass Putins imperialistische Aggression nicht siegen darf”. Wer daran nach mehr als zwei blutigen Kriegsjahrenzu zweifelnwagt, hatsein demokratisches Rederecht in der Öffentlichkeit praktisch verwirkt, ungeachtet der dramatischen militärischen Lage, die von namhaften Experten selbst der USA als aussichtslos für einenmilitärischen Sieg der Ukrainer gegen die Russen angesehen wird. Ungeachtet auch der inzwischen Hunderttausenden von Toten auf beiden Seiten, schwerwiegenden Zerstörungen und einer völligen auch wirtschaftlichen Abhängigkeit derUkraine vom Westen.
Doch der Kurs steht auf Krieg: Inzwischen haben die europäischen Demokratien das massivste Aufrüstungsprogramm aller Zeiten in Angriff genommen, das mindestens zwei bis drei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes verschlingen soll, und das bei allseits schrumpfenden Wirtschaftsdaten. In Deutschland ist bereits vom nötigen Aufbau einer Kriegswirtschaft die Rede – offenbar gegen einen Angriff der Russen, die angeblich nach Berlin kommen können. Daher müssen sich nunmehr die Deutschen – auch nach Ansicht ihrer Sozialdemokraten und Grünen – der Aufgabe stellen, nicht nur wieder „kriegstüchtig“ zu werden, sondern endlich auch jene Führungsrolle in Europa einzunehmen, nach der sie schon vor über einem Jahrhundert strebten. Künftige Regierungen der politischen Rechten werdendiese Rolleweiter ausbauen wollen.Deshalb wirdnoch immer – nach über hundert Jahren -dieBedrohung Europas durch Russland als reale Gefahr von offiziellen Regierungen in den Raum gestellt – wider alle Ratio. Seit über zweihundert Jahren weiss man: “Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer “ (Goya, 1799). Wird also dann die NATO noch weiter in jenen „Ostraum“ vordringen, hinter dem sie ja auch die alte „gelbe Gefahr“ erneut ausgemacht hat?
Volker von Törnes “Amtliche Mitteilung” (1961) bleibt aktuell: “Die Suppe ist eingebrockt: wir werden nicht hungern. Das Wasser steht uns am Hals: Wir werden nicht dürsten. Sie spielen mit dem Feuer. Für uns ist gesorgt.”
Susanna Böhme-Kuby, lebt in Italien, wo sie an den Universitäten Genua, Udine und Venedig Deutsche Literaturgeschichte lehrte; sie schreibt heute für deutsche und italienische Zeitschriften über Kultur und Politik, darunter auch für INTERNATIONAL.