Gaza: Endlich wieder eine Nacht ruhig schlafen

In Gaza hat am Sonntag der Waffenstillstand begonnen. Auf den Straßen wird gefeiert, doch die Familien der freigelassenen palästinensischen Geiseln dürfen nicht mitfeiern, schreibt die INTERNATIONAL-Kolumnistin Helga Baumgarten aus Jerusalem/Al Quds.

Die Bilder auf al-Jazeera und anderen Sendern, die noch aus Gaza berichten, wie Al Mayadeen und Press TV, sind unglaublich: Die Menschen sind auf den Straßen, überall, und warten auf den Beginn des Waffenstillstandes. Doch die israelische Armee, unter persönlichem Befehl des Premiers Netanyahu, kann das Morden nicht lassen. Bis zur Übergabe der Namen der drei freizulassenden israelischen Geiseln wurden nach dem offiziell ausverhandelten Beginns des Waffenstillstands noch 19 Menschen in Gaza ermordet und zahllose verletzt.

Aber kurz nach 11 Uhr (Ortszeit) war es so weit: Die Armee stoppte ihr tödliches Werk. Für 16 Uhr war die Übergabe der drei ersten israelischen Geiseln an das internationale Rote Kreuz vorgesehen. Alle bangten, zuerst und vor allem die Angehörigen der drei jungen Frauen. Nicht geringer war das Bangen der Angehörigen der 90 Frauen und Kinder, die aus israelischen Gefängnissen freigelassen werden sollten: israelische gegen palästinensische Geiseln.

Dann kam die Überraschung: Jeeps und Autos mit Aktivisten des bewaffneten Arms der Hamas fuhren auf den zentralen Platz in Gaza, auf dem sich Tausende von Palästinensern versammelt hatten. Irgendwie kamen die Jeeps im Zentrum des Platzes an. Kurz darauf trafen die Autos des internationalen Roten Kreuzes ebenfalls auf dem Platz ein und hielten direkt gegenüber den Autos, in denen sich die drei jungen Frauen befanden.

Das Gedränge war unglaublich. Der Korrespondent von al-Jazeera kämpfte sich bis zu den Autos durch und konnte die Freilassung filmen – alles live zu verfolgen auf dem Satellitensender. Wenige Stunden später brachten TV-Sender einen Kurzfilm von Hamas, in dem die Übergabe gefilmt war: Bilder der strahlenden jungen Israelinnen, sie erhalten ein Abschiedsgeschenk aus Gaza – eine Karte von Gaza und ein Portrait vor einer palästinensischen Fahne.

Einer der Hamas-Aktivisten unterschreibt die Übergabepapiere des Roten Kreuzes. Danach steigen die jungen Frauen ins Rotkreuzauto, das Richtung israelischer Grenze fährt. Dort werden sie von der Armee empfangen und mit einem Hubschrauber in ein Krankenhaus bei Tel Aviv gebracht, wo ihre Familien auf sie warten. Reine Freude, die alle teilten.

Anders die Freilassung der palästinensischen Geiseln. Die israelische Grenzpolizei in Jerusalem umzingelte die Häuser der zurückkehrenden Geiseln: Es war ihnen strikt verboten zu feiern oder Besuch zu empfangen.

Die Busse mit den freizulassenden Geiseln, die in die West Bank sollten, wurden bis spät in die Nacht im Gefängnis Ofer, in dem seit Oktober 2023 mehrere Gefangene zu Tode gefoltert worden waren, festgehalten. Die zahllosen Menschen, die in Beitunia, direkt neben Ofer, aber in der West Bank, auf die Busse mit den freigelassenen Frauen warteten, wurden mit Tränengas beschossen. Es gab eine ganze Reihe von Verletzten.

Aber spät in der Nacht war es dann so weit, die Busse verließen Ofer und fuhren nach Beitunia und weiter nach Ramallah. Die Nacht wurde von Feuerwerken der Freude beleuchtet. Dann erschienen die ersten Bilder der freigelassenen Frauen. Erschütternd das Bild von Khalida Jarrar, die in den letzten Jahren immer wieder, ohne jede Anschuldigung, als Administrativhäftling in israelische Gefängnisse gebracht wurde. Nach den Folterungen der vergangenen Monate ist sie um Jahrzehnte gealtert.

Aber die Freude überwiegt – zuerst und vor allem in Gaza. Auch angesichts der unvorstellbaren Zerstörungen und der Zehntausenden von Toten. In der West Bank und in Jerusalem überwiegt die Freude über die jetzt wieder freien Frauen. Gleichzeitig nahmen die rassistisch-faschistischen Siedler in der West Bank ihre Angriffe gegen Palästinenser und palästinensische Dörfer auf. Kaum eine Straße, kein Palästinenser ist noch sicher vor diesen gewaltbesessenen Siedlerkolonialisten.

Helga Baumgarten wird auch in der nächsten Ausgabe I/2025 aus Jerusalem über die Situation in Palästina schreiben. Wenn Sie regelmäßig von Baumgarten und anderen Experten aus der Region über die Entwicklungen im Nahen Osten lesen wollen, dann bestellen Sie hier ein Jahres- oder Förderabo der INTERNATIONAL.

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