Die Rückkehr Lulas

Hintergründe, Einschätzung und Perspektiven

Die neuerliche Wahl von Lula da Silva zum Präsidenten Brasiliens wird vor allem für die Umweltpolitik des Landes aber auch für die Rolle der Indigenen Völker in Brasilien entscheidend werden. In anderen Bereichen ist aber eine vorsichtigere Einschätzung angebracht, da Lula über keine parlamentarische Mehrheit verfügt und in seiner Regierung auch konservative Kräfte berücksichtigen musste.

Von René Kuppe

Konsolidierung des Rechtsextremismus in Brasilien

In der am 30. Oktober 2022 in Brasilien abgehaltenen Stichwahl wurde der an diesem Tag fast exakt 77 Jahre alte Politiker Luiz Inácio Lula da Silva mit knapper Mehrheit zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Die Vorgeschichte ist bekannt. Lula war be- reits von 1. Januar 2003 bis 1. Januar 2011 Präsident Brasiliens gewesen. Als Gründungsmitglied und prägender Politiker der links orientierten brasilianischen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores) hatten seine früheren Regierungen auch inter- national anerkannte Erfolge aufweisen können. Im Sozialbereich war es zur Eindämmung des Hungers gekommen, in der Umweltpolitik zur langsamen Reduktion der Regenwaldzerstörung. Lula wurde jedoch gleichzeitig von einer stärker werdenden Rechten als personifizierter Inbegriff verhasster Politik angesehen, die angeblich darauf ausgerichtet war, das Land in eine „kommunistische Diktatur” zu verwandeln. Auf Grund eines umstrittenen und später vom Obersten Gericht Brasiliens aufgehobenen Korruptionsprozesses wanderte Lula im April 2018 für eineinhalb Jahre sogar ins Gefängnis. In der Zwischenzeit war der extremen Rechten eine noch nie dagewesene politische Konsolidierung und inhaltliche Radikalisierung gelungen, die ihren Ausdruck in vier Jahren Präsidentschaft des rechtsextremen Jair Bolsonaro fand, die am 1. Januar 2019 begonnen hatte. Die Präsidentschaft von Bolsonaro kann mit den prägenden Stichworten Agrobusiness, Gewaltverherrlichung und christlicher Fundamentalismus umrissen werden. Die Umweltzerstörung und Entwaldung fand einen neuerlichen Höhepunkt, der Hunger war ins Land zurückgekommen, rassistische Rhetorik und politische Gewalt wurden von der Regierung geschürt, organisierte Kriminalität geduldet und besonders katastrophal waren die Auswirkungen der verharmlosenden COVID-19-Politik der Bundesregierung: Als Bilanz waren bis Oktober 2022 ca. 700.000 Brasilianer an der Erkrankung gestorben.

Gerade dieser Umstand hatte dazu beigetragen, daß die Popularität Bolsonaros auch in dessen politischen Kernschichten – besser situierte Bevölkerungsgruppen in den städtischen Zentren des Südostens und die Träger der Siedlerkolonisation in den Frontierzonen des Amzonasraumes – im Jahre 2021 langsam zu schwinden schien. Erst 2022 kam es auf Grund besser werdender Wirtschaftsdaten – der Ukrainekrieg führte zu spektakulären Exporterfolgen und Handelsbilanzüberschüssen der brasilianischen Wirtschaft – und dem allmählichen Auslaufen des Corona-Problems wieder zu einem unerwarteten Popularitätsgewinn für Bolsonaro. Auch wenn dieser Wachstumsschub kein Niederschlag hausgemachter nachhaltiger Wirtschaftspolitik war sondern Ergebnis globaler Zusammenhänge, erlaubte er der Bolsonaro-Regierung, strategisch in den letzten Monaten vor den Wahlen ein hohes Niveau an Transferzahlungen für Leidtragende der Wirtschaftskrise flüssig zu machen.

Schon vor dem ersten Wahlgang am 2. Oktober 2022 hatte sich abgezeichnet, dass ein ursprünglich optimistischer Lula nicht sofort als Sieger hervorgehen würde. Der Wahlsieg Lulas war mit demnach mit 50,90% zu 49,10% auch nur relativ knapp ausgegangen, bei insgesamt 118.552.353 gültigen Stimmen hatte der Abstand lediglich 2.139.645 betragen. In den früheren Abend- stunden des Wahltages war Bolsonaro sogar vorne gelegen, erst die allmählich eintreffenden Wahlergebnisse aus den wirklichen Elendsregionen im Nordosten des Landes verschoben kontinuierlich das Pendel zugunsten Lulas.

Bemerkenswert und für die unter Lula ansetzende neue Politik sehr relevant ist aber auch der Ausgang der Bundes-Parlamentswahlen, der Wahlen in die Legislativversammlungen der Bundesstaaten und der Gouverneurswahlen, die am gleichen Tag wie der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, also Anfang Oktober 2022, stattfanden. Auf Bundesebene konnten weit rechts stehende Parteien ihre Positionen ausbauen. Der Partido Liberal (PL), dessen Präsidentschaftskandidat Bolsonaro gewesen war, konnte seine Sitze in der Abgeordnetenkammer des Nationalkongress von 33 (Wahl 2018) auf 99 (2022) erweitern. Gerade diese Partei hatte sich unter Bolsonaro inhaltlich in Richtung einer rechtsextremen nationalistischen Partei zu- gespitzt, in der gleichzeitig auch die Positionen evangelikaler Freikirchen einen hohen Niederschlag fanden. Gleichzeitig konnte die von der brasilianischen Arbeiterpartei Lulas geführte Koalition von drei Linksparteien nur wenig zulegen. Die Wahlen haben aber nicht nur das Spektrum der extremen Rechten breiter werden lassen. Die den verschiedenen rechten Interessensgruppen oder „bancardas” zuzuordnenden Abgeordneten (siehe Betrag von René Kuppe in INTERNATIONAL IV 2021) haben sich radikalisiert: Abgeordnete der Waffenlobby (Bancarda de balas) hatten im Allgemeinen die besonderen Agenden als Vertreter von Polizei und Militär vertreten. Im Jahre 2022 neu gewählte Abgeordnete zeigen hingegen einen starken Fokus auf gesamtgesellschaftlich bezogene, waffenfanatische Militanz und repressive Gewalt. Beim parlamentarischen „Bibelblock” (Bancarda evangélica) gibt es es eine parallele Profiländerung. Traditionelle Evangelikale mit einem eher pragmatischen Profil wurden durch teilweise sehr junge Politiker mit starker militanter Präsenz auf sozialen Medien ersetzt. Nikolas Ferreira, erst 26 Jahre alt, beschreibt sich selbst als konservativ, christlich und „Gegner der Genderideologie”. Mit 1,5 Millionen Wähler- stimmen gilt er als landesweit meistgewählter Bundesabgeordneter überhaupt. Ähnlich wie andere junge Abgeordnete der extremen Rechten ist Ferreira erfolgreicher Internet-Influencer: Seinen Danksagungsdialogen mit Bolsonaro persönlich auf Instagram folgten live 300.000 Zuseher.

Nicht nur auf Ebene der Abgeordnetenkammer hat sich die Stärke der extremen Rechten gezeigt: Nur vier der von Lula unterstützten Gouverneurskandidaten von Bundesstaaten wurden in einigen Staaten des Nordostens gewählt, hingegen acht von Bolsonaro unterstützte Kandidaten.

Das Zweckbündnis hinter Lula

Daß trotz dieser allgemeinen Stärke des sich um Bolsonaro gruppierenden Lagers dennoch Lula die Stichwahl gewinnen konnte, ist letztlich nicht der Stärke der Linken zuzuschreiben, sondern paradoxerweise gerade der inhaltlichen Radikalisierung der Basis von Bolsonaro. Diese Situation der Polarisierung zwischen einem extremen Bolsonarismus und einer von Lula in den Raum gestellten Alternative dazu hat die gemäßigte Rechte, die sich bisher etwa im Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) oder in der Kandidatur von Simone Tebet vertreten sah, in eine Zweckallianz gegen Bolsonaro getrieben. Tebets politi- sche Karriere ist mit dem Movimento Democrático Brasileiro (MDB) verbunden, einer Partei, die an den Korruptionsvor- würfen gegen Lula und am Impeachment gegen seine frühere Nachfolgerin Dilma Roussef von der Arbeiterpartei mitgewirkt hatte: Im Wahlkampf 2022 hatte sich Tebet als Vertreterin des „Dritten Wegs”, – weder links noch rechts – dargestellt, als Feministin und Umweltschützerin. Diese Themen „dürfe man nicht der Linken überlassen”. Erst im Zuge der Stichwahl wechselte Tebet in das Lager von Lula, und konnte am 1. Januar das Amt als Planungsministerin in dessen Kabinett antreten. Tebet kann als Symbol dafür angesehen werden, wie prominente Gegner der Arbeiterpartei und somit der eigentlichen politischen Basis von Lula, ihn letztlich zwecks Verhinderung des rechts- extremen Bolsonarismus unterstützten.

Dasselbe Phänomen zeigt sich auch bei Lulas neuem Vizepräsidenten und Minister für Handel, Entwicklung, Industrie und Dienstleistungen, Gerardo Alckmin. Als farbloser Vertreter neo- liberaler wirtschaftspolitischer Positionen ist sein Image noch zusätzlich durch die frühere Verbindung zum PSDB getrübt, welches die Interimsregierung von Michel Temer gestützt hatte – die unbeliebteste Regierung in der gesamten Geschichte Brasiliens. Arzt von Beruf, wird dem Katholiken Alckmin, der lange ein er- bitterter Gegner von Lula gewesen war, die Mitgliedschaft beim extrem konservativen Opus Dei nachgesagt. 2021 verließ er sei- ne bisherige Partei PSDB, um sich dem gemäßigt-linken Partido Socialista Brasileiro (PSB) anzuschließen und bald danach seine Kandidatur für die Vizepräsidentschaft von Lula bekanntzugeben. Alckmin steht für Kampf gegen Korruption, aber auch für Verringerung des Staatseinflusses auf die Wirtschaft. Nach dem Wahlsieg von Lula war er Koordinator der provisorischen Übergangsregierung, bis er am 1.1. seine beiden Regierungsfunktionen im Kabinett Lula antrat.

Wahlgewinner – Wahlverlierer

Die genauere Analyse der Wahlergebnisse in Brasilien muss zu einem komplexen, vielschichtigen Befund kommen: Zweifellos ist Lula, wenn auch knapper, persönlicher Wahlgewinner. Nicht jedoch ist die Linke als solche als Gewinnerin aus diesen Wahlen hervor- gegangen. Entsprechend zeigte sich auch, daß Lula einen mehr und mehr auf seine Person zugespitzten Wahlkampf geführt hat. Die Rolle der Arbeiterpartei, seiner eigentlichen politischen Heimat, wurde bewusst in den Hintergrund gedrängt. Das bemerkte man schon äußerlich, wenn Lula bei seinen Wahlkampfauftritten auf das typische rote Hemd mehr und mehr verzichtete. Als politischer Profi besaß er ein ausreichendes Sensorium für die relativ breite Abneigung, die der Arbeiterpartei – zu Recht oder zu Unrecht – nach wie vor entgegenbrandet. Der Partei war es einfach nicht gelungen, ihr von früher herrührendes negatives Image abzustreifen. Damit zusammenhängend ist auch der Umstand, dass der Linken Brasiliens eine glaubwürdige dynamische Nachwuchsgeneration fehlt. Im Gegensatz zur extremen Rechten sind die Arbeiterpartei und die mit ihr verbündeten kleinen weiteren Linksparteien (z.B. Kommunistischen Partei Brasiliens) personell überaltert.

Fast jeder kennt in Brasilien Personen, die von sich behaupten, Lula wegen Aversionen gegen den Bolsonarismus und trotz großer persönlicher Vorbehalte gegenüber der Arbeiterpartei gewählt zu haben. Die Allianz unter Lula, die sich auch auf ein breites Bündnis mit gemäßigt rechten Politikern und Kräften stützte, kann somit auch als letztlich gelungene Bemühung an- gesehen werden, den Bolsonarimus mit seinen charakteristischen Angriffen auf die Grundlagen der Rechtstaatlichkeit, auf liberale Kulturpolitik und auf Umweltschutz zu bremsen. Gewinner der Wahl ist aber auch – paradoxerweise – das rechtsextreme Lager mit den bedeutenden Zuwächsen an Kandidaten und Gouverneurspositionen.

Verlierer ist nicht nur der numerisch unterlegene Bolsonaro persönlich, sondern sind vor allem auch die bisherigen Parteien und politischen Gruppierungen der gemäßigten Rechten, die im Schatten der scharfen Polarisierung fast zerbröselt wurden. Die beachtliche Präsenz liberaler und gemäßigt-konservativer Politiker in der gerade beginnenden neuen Administration Lulas wird aber wohl verhindern, dass es insgesamt zu einer akzentuierten progressiven Ausrichtung der brasilianischen Politik kommen kann. Die von außen manchmal vorgenommene Einschätzung, daß Brasilien Teil einer neuen lateinamerikanischen „Rosa Welle” werden könnte und sich in „linke” Strömungen etwa in Mexiko, Bolivien, Kolumbien und Chile einreiht, entspricht kaum der Realität. Im besten Fall kann – wie der Leiter der Forschungsabteilung des Iberoamerikanischen Instituts Berlin, Peter Birle, in einer Zoomkonferenz der Evangelischen Akademie Bad Boll am 8. Dezember 2022 betonte – auf Rückkehr zur demokratischen Normalität gehofft werden.

Ob diese Rückkehr jedoch gelingt, wird auch damit zusammen- hängen, wie weit es Bolsonaro, der sich immerhin auf 58 Millionen Wähler stützt, gelingen wird, von außen als „Störfaktor” in Lulas Normalisierungsagenda hineinzuwirken. Zur Einschätzung dieser Frage reicht aber nicht der Blick auf die formellen Kräfteverhältnisse der politischen Parteien in den Institutionen.

Bolsonaro nach den Wahlen

Bosonaro besitzt innerhalb des Partido Liberal, dessen Kandidat er bei den Wahlen 2022 war, keine formelle innerparteiliche Führungsfunktion. Die Partei wird von erfahrenen und wohl auch pragmatischeren Parteipolitikern gelenkt. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, daß es nicht zu Bolsonaros persönlicher Stärke zählt, innerhalb von politischen Parteien organisatorisch relevante Positionen einzunehmen oder zu lenken. Die Verbindung Bolsonaros zu politischen Parteien, die er mehrmals wechselte, waren lediglich notwendig, weil es nach brasilianischem Recht Voraussetzung ist, einer politischen Partei gerade mal anzugehören, um überhaupt kandidieren zu können. Es ist aber nicht zu erwarten, daß Bolsonaro eine wichtige Rolle innerhalb der parlamentarischen Opposition gegen die neue Regierung spielen könnte. Bolsonaro zeigt jedoch als populistischer Politiker immer wieder sein Geschick, die Menschen direkt und außerparlamentarisch anzusprechen. Nach Einschätzung des an der Universität São Paulo als Politologe wirkenden Bruno Wilhelm Speck wäre es für Bolsonaros Einfluß paradoxerweise beispielsweise förderlich, wenn gegen ihn wegen seiner Taten als früherer Präsident formelle Verfahren eingeleitet würden, weil ihn das als zentrale außerparlamentarische Oppositionsfigur wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rücken und so ins Spiel bringen würde.

Lulas neue Indigenenpolitik

Vor allem auf internationaler Ebenen waren und sind die Erwartungen gegenüber Lula in Bezug auf den Regenwaldschutz besonders hoch. Manche ausländische Kommentatoren sahen im Amazonasregenwald einen Hauptsieger der Wahl vom 30. Oktober. Das Amazonasthema ist evidentermaßen auch besonders stark mit der Frage des Schutzes der Lebensräume und der Siedlungsgebiete der Indigenen Völker verbunden.

Schon bei einer großen öffentlichen Mobilisierung und Protestveranstaltung der indigenen Dachorganisation Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB) im April 2022 in der Hauptstadt Brasilia hatte Lula auf der Rednerbühne in Aussicht gestellt, im Falle seines Wahlsieges die gegen Umweltschutz und gegen die Rechte der Indigenen Völker gerichteten Maßnahmen der Ära Bolsonaro rückgängig zu machen. Schon wenige Tage nach seinem Wahlsieg versprach Lula dann, für diesen Zweck ein eigenes Ministerium für die Indigenen Völker neu einzurichten.

In der Folge konnte APIB der Interimsregierung Lula elect eine Dreierliste mit „Wunschkandidat*innen” für das neue Minister- amt vorlegen. Aus dieser Liste kam die international äußerst bekannte indigene Aktivistin Sônia Guajajara zum Zug. Sônia war sogar vom TIME Magazin im Mai 2022 als Frontkämpferin gegen das Bolsonaro-Regime, als eine der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gelistet worden. Nicht als Ministerin ernannt wurde die ebenfalls im Dreiervorschlag aufscheinende Joênia Wapichana1, die als erste mit juristischem Titel versehene indigene Persönlichkeit Brasiliens den bekannten Landrechtsfall Raposa do Sol, in welchem ihr Volk involviert war, 2004 vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission in Washington DC gebracht hatte und später dann den Fall erfolgreich vor dem Obersten Gericht Brasiliens vertrat. Joênia hat in den Jahren seither hervorragende Kenntnisse über das Funktionieren der obersten Behörden in der Hauptstadt gewonnen und ist mit den internen Tücken und Fallgruben brasilianischer Politik vertraut. Sie hat ein anders gelagertes Profil als die als internationale Ak- tivistin bewährte Sônia Guajajara. Die von Lula vorgenommene Nominierung Sônias als Ministerin für Indigene Völker hat einen parteipolitischen Hintergrund, der auch exemplarisch für die heiklen Seiten der neuen politischen Konstellationen unter Lula ist.

Die erfahrene Umwelt-Ikone Marina Silva, die im entlegenen „Fernen Westen” Brasiliens, dem Staate Acre, Mitstreiterin des von Großgrundbesitzern 1988 ermordeten Kautschuksammler- Aktivisten Chico Mendes gewesen war, hatte 2022 ihre neuerliche Unterstützung von Lula bekanntgegeben. Marina Silva war be- reits ab 2003 Umweltministerin unter Lula gewesen. Nach Jahren erfolgreicher Waldschutzpolitik, aber auch Jahren des Haderns mit Lula wegen dessen Zulassung des Anbaus von gentechnisch verändertem Soja und wegen des Ausbaues von Wasserkraft und Aluminiumschmelzen im Norden des Landes verließ Silva nicht nur die Regierung Lula, sondern 2009 auch ihre langjährige politische Heimat, die Arbeiterpartei. In den Jahren danach trat sie nicht nur als Gegenkandidatin von Lula auf, sondern auch als Kritikerin der vom dem Agrobusiness in die Knie gehenden Linksregierungen. Marina Silva, die ihre neue Unterstützung für Lula mit den Worten „Die Demokraten müssen sich gegen die Banalisierung des Bösen zusammenschließen” kommentierte, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Lula-Allianz sehr heterogen ist und deren Klammer vor allem die Aversion gegen den Bolsonarismus war und ist.

Lula hatte sich allerdings auch selbst allmählich in der Umweltfrage wieder an Positionen von Marina Silva angenähert.
Er brachte diese Annäherung letztlich durch deren neuerliche Nominierung als Umweltministerin zum Ausdruck, ein Amt, das sie dann am 1. Januar 2023 antreten konnte. Marina Silva verdrängte damit sogar die ursprünglich vorgesehene konservative Simone Tebet, die dafür zur Planungsministerin avancierte.

Marina Silva hatte nach ihrem persönlichen Bruch mit der Arbeierpartei und einem kurzem Liebäugeln mit dem Partido Verde (Grünpartei) eine neue Ökopartei, Rede Sustentabilidade (REDE, Netz Nachhaltigkeit), gegründet. 2015 war die Registrierung dieser neuen Kleinpartei gelungen. Nach eigenen Angaben stand diese Partei weder „links” noch „rechts”. Von dem brasilianischen Wochenmagazin CartaCapital war REDE einfach als „moderne Partei” bezeichnet worden. Joênia Wapichana war 2018 schließlich als Kandidatin der Partei REDE in die brasilianische Abgeordnetenkammer gewählt worden – als erste indigene Frau übrigens.

Somit hätte die Nominierung von Marina Silva (als Umweltministerin) und von Joênia Wapichana (als Ministerin für die Indigenen Völker) zu zwei Ministerinnen von der selben Kleinpartei geführt. Um das prekäre Gleichgewicht seiner Allianz nicht zu erschüttern, ent- sprach es dem Kalkül Lulas, Joênia nicht ins Ministeramt zu bestellen, sondern sie vielmehr zur neuen Leiterin der bereits 1967 eingerichteten brasilianischen Indigenenschutzbehörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio, nunmehr offiziell umbenannt auf Fundação Nacional dos Povos Indígenas) zu ernennen.

Sônia Guajarara, die das neue Indigenenministerium übernimmt, wurde als Exekutivsekretär des Ministeriums Eloy Terena zur Seite gestellt. Eloy gilt als eine der schillerndsten und dynamischsten Persönlichkeiten in der jüngeren Generation indigener Aktivisten Brasiliens. Als praktisch agierender Jurist hat er sich rasch ei- nen Namen in mehreren gerichtlich anhängigen wichtigen indigenen Landrechtsfällen (Marco Temporal, Guyra Roká) gemacht. Im Jahre 2021 war er Hauptautor einer Anzeige, die im Namen von APIB beim Generalanwalt des Internationalen Strafgerichtshofes ICC in Den Haag gegen die Regierung Bolsonaro wegen Genozidvorwurfs an den Indigenen Völkern eingereicht worden war.

Eloy Terena hatte nach dem Wahlsieg Lulas seine eigene Bereitschaft und Hoffnungen auf Übernahme eines Ministeramts zum Ausdruck gebracht. Man kann neugierig sein, welchen Niederschlag die Einbindung prominenter indigener Aktivisten und Aktivistinnen an verschiedenen bedeutenden Stellen des brasilianischen Staatsapparates finden wird. Eine sensible Angelegenheit kann beispielsweise die konkrete Kompetenzabgrenzung zwischen dem neuen Indigenenministerium und der unter Bolsonaro finanziell ausgehungerten „Schutzbehörde” FUNAI in der politischen Praxis werden. Es wird sich auch zeigen, ob die starke internationale Fokussierung auf den als ökologisch besonders herausragend wahrgenommenen Amazonasraum zu einer Ausblendung der brisanten Landrechtsfrage der außerhalb Amazoniens lebenden Guaraní Südbrasiliens führen wird, deren Lebenssituation auf verstreuten kleinen Reservaten im Sojagürtel ganz besonders dramatisch ist. Schon sind in den letzten Tagen entsprechende Vorwürfe von Guaraní-Aktivisten angesichts von kolportierten Aussagen aus dem neuen Ministerium artikuliert worden. Zweifellos ist es ein jedoch ein umwälzender Schritt, dass die Indigenen Völker fast von einen Tag auf den anderen offiziell nicht als Objekte angesehen werden, die Fortschritt und Wirtschaftsexpansion im Wege stehen, sondern daß eine neue Institutionalität als Ausdruck von Selbstbestimmung in ihre eigenen Hände gelegt wird. Beispielsweise ist in diesem Sinne vorgesehen, daß in der „neuen” FUNAI nur indigene Personen oder Personen, die von Indigenen Völkern autorisiert sind, Funktionen übernehmen sollen.

Konfliktpotential Freihandelsabkommen

Die Absicherung der Interessen und Rechte der Indigenen Völker und Regenwaldschutz sind nicht unbedingt die Prioritäten jener Teile der politischen Mitte und gemäßigten Rechten, mit denen Lula jetzt wohl oder übel in Allianz steht. Vor diesem Hintergrund könnte eine zusätzliche Konfliktlinie durch ein zentrales außenpolitisches Wirtschaftsthema angeheizt werden: Schon in seiner Wahlsiegesrede am Abend des 30. Oktober hatte Lula in Aussicht gestellt, daß er die „Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zur Europäischen Union” auf eine neue Basis stellen wolle. Er habe kein Interesse an Handelsabkommen, die Brasilien dazu verurteilen, dauernd Lieferant von Rohmaterialien zu sein. Lula brachte hier auch den alten fundamentalen Unmut der Arbeiterpartei gegenüber dem vorgesehenen Assoziierungsabkommen zwischen MERCOSUR, einem umfassenden wirtschaftlichen und politischen Integrationsprojekt von (derzeit) vier südamerikanischen Staaten (inkl. Brasilien) und der Europäischen Union, auf den Punkt. Die für Handelsfragen zuständige Sprecherin der Europäischen Kommission, Mariam García Ferrer, hat jedoch am 1. November in einer vorsichtigen Aussage zu verstehen gegeben, dass der Wahlsieg Lulas Europa hoffen lasse, das ausgehandelte Abkommen, zu dem es ein aus dem Jahre 2019 stammdes Agreement-in-principle gibt, endlich zu einem Abschluss bringen zu können. Ganz generell gibt es keine Signale von Seiten der Europäischen Kommission, Verhandlungen über das Abkommen wieder aufnehmen zu wollen. Viele hinter Lula stehen- de Basisorganisationen betonen dem gegenüber, daß der Hunger nach Brasilien zurückgekehrt sei und ein Handelsabkommen, das einfach auf Export von landwirtschaftlichen Rohstoffen hinausliefe, derzeit keinen Platz haben solle. Der indigene Jurist Dinamam Tuxá, Exekutivkoordinator von APIB, sprach in einer von der Organisation FERN organisierten Zoomkonferez am 22.11.2022 über die entsprechenden Erwartung vieler sozialer Bewegungen, die die politische Agenda Lulas unterstützten: Innerhalb eines inter- nationalen Handelsabkommens solle nicht nur die verbindliche Nachvollziehbarkeit von Lieferketten eingebaut werden, sondern auch die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen für Umweltzerstörung und für Verletzung der Landrechte von Indigenen Völkern und traditionellen Gemeinschaften (also etwa den afrobrasilianischen Quilombola-Gemeinschaften) verankert werden. Ganz allgemein zeigt sich in den neuerlich eröffneten Debatten um das EU-MERCOSUR-Assoziierungsabkommen ein explosives Grunddilemma innerhalb der breiten Allianz, die zum Wahlerfolg Lulas geführt hat: Einerseits stehen hier die Geschäftsinteressen von jenen, die an der raschen Unterzeichnung des Freihandelsabkommens interessiert seien. Diese Interessen widersprechen jedoch den Erwartungen der Kerngruppen der Unterstützer von Lula – Arbeiterpartei, viele soziale Bewegungen, Organisationen Indigener Völker. Diese betonen, dass die jetzige Regierung Lula auch jene Kräfte repräsentiere, die beim Ausverhandeln des Ab- kommens nicht zur Sprache gekommen seien. Es zeichnet sich eine herausfordernde Erwartung an die Regierung Lula ab, wie sie mit diesem Widerspruch umgehen wird und daß die neu geschaffenen Mitwirkungsräume für die betroffenen Bevölkerungsteile auch in Bezug auf Entscheidungen zur internationalen Handelspolitik ernst genommen werden müssen.

Freundschaftlicher Besuch?

Herausforderungen und Erwartungen werden nicht nicht nur innerhalb Brasiliens an Lula gestellt. Am Ende einer kurzen Südamerika-Reise, die den deutschen Kanzler Olaf Scholz Ende Januar 2023 nach Argentinien und Chile geführt hatte, besuchte dieser auch Brasilien. Die deutschen Medien jubelten: „Olaf Scholz will neues Kapitel in den Beziehungen zu Brasilien herstellen”. Freundschaftlich, herzlich seien die Umarmungen zwischen dem Sozialdemokraten Scholz und dem Sozialisten Lula gewesen. Und Scholz brachte Geld mit sich: Nach einem einstündigen Gespräch zwischen der deutschen Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze und Marina Silva wurden umgerechnet ca. 200 Millionen EURO in Aussicht gestellt, von denen ca. 35 Millionen EURO in den unter Bolsonaro stillgelegten Fundo Amazônia fließen sollte.

Der deutsche Kanzler reiste aber auch mit hochgesteckten Forderungen und Erwartungen an. Das Assoziierungsabkommen MERCOSUR-EU solle so rasch wie möglich abgeschlossen wer- den. Man kann davon ausgehen, daß Scholz wie zuvor in Chile den Zugang zu den natürlichen Reichtumern des südamerikani- schen Bodens für die deutsche Industrie und insbesondere Rüs- tungsindustrie möglichst glätten will. Brasilien solle den russi- schen Angriff auf die Ukraine verurteilen. Scholz äußert sogar den deutschen Wunsch, Brasilien möge Munition für Gepard-Panzer für den Einsatz in der Ukraine liefern. Doch Lula lehnte ab. Und konterte: Es gäbe da ein brasilianisches Sprichwort: „Wenn einer nicht will, können zwei nicht streiten”. Und auf twitter konnte man später von Lula lesen: „Brasilien hat kein Interesse dar- an, Munition für den Krieg zwischen der Ukraine und Russland weiterzugeben. Brasilien ist ein Land des Friedens. In diesem Moment müssen wir diejenigen finden, die Frieden wollen, ein Wort, das bisher sehr wenig verwendet wurde”. Vielleicht wird es der politische Vollblutstratege Lula schaffen, auch weiteren Begehrlichkeiten geschickt auszuweichen. 

René Kuppe ist Jurist, Kulturanthropologe und pensionierter Universitätsprofessor. Er beschäftigt sich besonders mit Rechtsfragen, die mit indigenen Völkern und ethnischen Minderheiten im Zusammen- hang stehen.


1

Es ist eine Besonderheit der Eigenbenennungen indigener Persönlichkeiten und insbesondere AkivistInnen Brasiliens, daß der zweite Name die ethnische Zugehörigkeit der Person widerspiegelt; so ist Sônia Angehörige des im Staate Maranhão siedelnden Volkes der Guajajara, während Joênia zum Volk der Wapichana in nördlichsten Bundesstaat Roraima gehört. Ihr offizieller Name lautet Joênia Batista de Carvalho.