75 Jahre Nakba – 75 Jahre palästinensische Katastrophe von 1948 Palästinenser fordern: Wir wollen unsere Freiheit, und wir wollen sie JETZT

von Helga Baumgarten

Überall in Europa, ja praktisch überall im Westen, nimmt man zuerst und vor allem Israel wahr. Israels 75jähriges Bestehen wird groß gefeiert. Viele drücken ihre wahre Begeisterung für diesen Staat aus und bekunden ihm ihre ungebrochene Solidarität. Deutschland zeichnet sich dabei besonders aus. Die Palästinenser vergisst man dagegen fast immer. Man übersieht sie gerne, weil sie die ausgezeichneten Beziehungen zu Israel nur stören würden.

Was aber ist diese Nakba, die palästinensische Katastrophe von 1948?

In den Worten von Constantin Zurayk, der schon im August 1948 sein wichtiges kleines Büchlein, Die Bedeutung der Katastrophe, veröffentlichte, konstituiert die Proklamation des Staates Israel auf dem Land des historischen Palästina „eine Katastrophe (Nakba) im vollsten Sinne des Wortes“. Was man den Palästinensern 1948 angetan hat, indem man ihnen ihr Land weggenommen und es Zuwanderern und Siedlern gegeben hat, damit diese dort ihren eigenen Staat errichten, das ist die Katastrophe. In anderen Worten, die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes für die Palästinenser und ihre Vertreibung machen die Katastrophe aus.

Es ging also zum einen um die

  • Vertreibung von 750.000 von insgesamt 900.000 palästinensischen Bewohnern im 1948 geschaffenen Staat Israel durch die Armee und nicht zuletzt durch eine ganze Serie brutalster Massaker. Über 500 Dörfer wurden zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Fast alle Palästinenser wurden aus den wichtigen Küstenstädten Jaffa, Haifa und Akka vertrieben. Nach Beendigung der Gewalt und dem Beginn des Waffenstillstandes verhinderte der neue israelische Staat systematisch die Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge.

Zum anderen wurde 

  • die Schaffung eines palästinensischen Staates verhindert. Stattdessen expandierte Israel im Vergleich zum Teilungsplan, Jordanien schließlich annektierte Westjordanland und Ost-Jerusalem.

Schon Maxime Rodinson (1967 und 1969/73) konzeptualisierte die Nakba und ihre Folgen durch seine Analyse des Staates Israel, der für ihn Siedlerkolonialismus konstitutierte.

Entscheidend, so schließlich die Analyse von Patrick Wolfe in seinem immens wichtigen Artikel im Journal of Genocide Research 2006: „Settler Colonialism and the elimination of the native“, ist die Nakba als Ergebnis des israelischen Siedlerkolonialismus kein einmaliges historisches Ereignis, keine einmalige Katastrophe. Sie bildet vielmehr eine Struktur und einen Prozess, der bis heute andauert.

Das macht einen Sprung ins Jahr 2023 nötig

Masafer Yatta im Süden des Westjordanlandes,  Scheich Jarrah und Silwan in Jerusalem, zahllose palästinensische Dörfer und Weiler im Jordantal und derzeit vor allem Jenin und Nablus im Norden der Westbank …. eine lange Liste mit Orten, an denen bis heute Gewalt gegen Palästinenser ausgeübt wird und die Menschen aus ihren Häusern und Wohnorten vertrieben werden. Wir müssen deshalb die Nakba (die Katastrophe für die Palästinenser) als ununterbrochenen Prozess sehen und sie entsprechend analysieren, um sie überhaupt annähernd verstehen zu können. Wir müssen also eine Linie ziehen vom Massaker in Deir Yassin (1948) bis zur israelischen Gewalt in Scheich Jarrah heute. Und um Patrick Wolfes Analyse zum Siedlerkolonialismus zu wiederholen, so ist Siedlerkolonialismus kein einmaliges Ereignis, sei es aus dem Jahre 1948 oder dem Jahre  1967 (dem Juni-Krieg Israels gegen die arabischen Staaten und gegen die Palästinenser), sondern ein ununterbrochener historisch-politischer Prozess, der bis heute andauert. Als einen der letzten Gewaltakte in diesem Prozess müssen wir Masafer Yatta im Süden der Westbank, südlich von Hebron, sehen. Dort leben seit mehr als einem Jahrhundert Menschen in 14 Gemeinden in den einfachsten Verhältnissen, zum Teil in Höhlen. In den 80er Jahren erklärte die israelische Armee das gesamte Gebiet  von Masafer Yatta zum militärischem Übungsgebiet, in dem scharf geschossen wird. Alle Bewohner wurden vertrieben, viele ihrer Häuser und Hütten wurden zerstört. Die Menschen aber kommen unweigerlich zurück, werden wieder vertrieben, kommen wieder zurück etc.

Im Mai 2022 akzeptierte schließlich das  Oberste Israelische Gericht die von der Regierung vorgebrachten Argumente, dass es in Masafer Yatta nie eine permanente Besiedlung gegeben habe. Das Argument der Rechtsanwälte der Bewohner von Masafer Yatta, dass diese dort schon vor der Gründung Israels gelebt hätten, wird abgeschmettert. Auch das Argument, dass Vertreibung und Transfer gegen internationales Recht (Artikel 8 der Genfer Konvention) verstoßen, wird abgelehnt. Selbst die Gültigkeit dieses Artikels und ihre Anwendung auf Masafer Yatta wurde vom Obersten Gericht zurückgewiesen.

Amira Hass von Haaretz sieht darin erschreckende Symbolik, wenn am Abend des israelischen Unabhängigkeitstages (von 2022) und am Abend der Nakba, der Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser und ihrer Trauer über den Verlust ihrer Heimat, diese klare Position des OG in der aktuellen historiographischen Debatte bezogen wird. Dass nämlich

Israel ein kolonialer Siedlerstaat ist, der Land konfisziert und vereinnahmt, der die dortigen Bewohner, Ureinwohner und Einheimische (natives), vertreibt und das alles in einem Prozess, der seit über 100 Jahren andauert.

In Masafer Yatta sind aktuell 1.200 bis 1.800 Menschen betroffen. Ihre Vertreibung ist in vollem Gange.Und ganz aktuell ist die Vertreibung von Bewohnern des Weilers Ein Samia, östlich von Ramallah gelegen. Die etwa 200 Menschen dort konnten der kontinuierlichen Gewalt durch die benachbarten kolonialistischen Siedler nicht widerstehen und “flüchteten”.

Neue israelische Ultra-Rechtsregierung verschärft Repressionen

Zuletzt müssen wir die Gewaltserie seitens der israelischen Regierung unter Netanyahu mit den rassistischen Extremisten Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, aber eben auch dem Verteidigungsminister Yoav Gallant (besser Kriegsminister, wie weltweit wohl alle Verteidigungsminister umbenannt werden sollten!) analysieren.

Sie begann mit dem Tod von Khader Adnan in einem israelischen Gefängnis nach 86 Tagen Hungerstreik, einem neuen Höhepunkt der menschenfeindlichen israelischen Gewalt. Gideon Levy schreibt in Haaretz, dass die israelische Gefängnisverwaltung und der israelische Geheimdienst Shin Beth Khader Adnan sterben lassen wollten. Dr. Qasem Hassan betont in Mondoweiss, dass sie mit seinem Tod die Moral der palästinensischen Gesellschaft brechen wollten. Amnesty International spricht von absichtlicher und gewollter medizinischer Nachlässigkeit. PHROC (der Rat der palästinensischen Menschenrechtsorganisationen) schließlich bringt alles auf den Punkt:

„Die kontinuierliche medizinische Vernachlässigung durch die israelische Gefängnisverwaltung, vor allem die Verweigerung einer Behandlung im Krankenhaus trotz eines medizinischen Notfalls … sowie das schon routinemäßige „Versäumnis“ der internationalen Gemeinschaft, grausame Verbrechen gegen Palästinenser zu verfolgen, all dies konstituiert einen massiven und systematischen Verstoß gegen die Genfer Konventionen und ist direkt verantwortlich für den Tod von Khader“.

Gideon Levy fordert deshalb die internationale Gemeinschaft auf, wenigstens  anzuerkennen, dass Khader in seinem Kampf für Freiheit in Würde starb.

Als Reaktion auf Khader Adnans Tod schossen Militante des Islamischen Jihad – der Organisation, der Khader Adnan angehörte – eine Serie von Raketen auf Israel. Israel antwortete mit massiver Bombardierung des Gazastreifens, wo ein Mensch starb. Allerdings endete die Gewalt innerhalb eines Tages. Schnell machte sich deshalb Erleichterung breit, dass die Regierung Netanyahu keine neue Runde im langen Krieg gegen Gaza begonnen hatte.

Aber diese Erleichterung kam zu früh. Eine knappe Woche später bombardierte Israel den Gazastreifen und ermordete (man nennt dies inzwischen im „newsspeak“ gezielte Tötungen – diese verletzen klar und ohne Zweifel das geltende internationale Recht, um das sich israelische Regierungen noch nie geschert haben) drei Führer des Islamischen Jihad mitsamt deren Frauen und Kindern und Nachbarn.  Zuerst kam keine Reaktion aus Gaza. Als alle Opfer beerdigt waren, versuchten die palästinensischen Militanten, sich am übermächtigen Israel zu rächen mit immer neuen Serien von einfachen Raketen, oft selbst gebaut, die Richtung israelisches Territorium abgefeuert wurden, meist ohne jegliche Folgen. Der Waffenstillstand, den Ägypten zu vermitteln versuchte (auch unter amerikanischem Druck) kam nicht zustande, da Israels Armee und Geheimdienst die Chance nutzen wollten, möglichst viele führende Militante und Aktivisten des Islamischen Jihad zu töten und gleichzeitig Angst und Schrecken im Gazastreifen zu verbreiten, den Menschen dort klar zu machen, dass sie aus israelischer Sicht gar keine Menschen sind. Schließlich hat Israel die Bewohner von Gaza, eine Gesellschaft von über zwei Millionen Menschen, seit 2006/7 unter eine menschenverachtende Blockade gestellt. Sie müssen unter unmenschlichen Bedingungen, die für Außenstehende kaum vorstellbar sind, leben, besser überleben.

Bis zum Ende dieser neuen Phase des „langen Krieges gegen Gaza“ am 13.Mai 2023 wurden wohl mindestens 6 führende Jihadisten getötet. Den Preis für alle israelischen Angriffe bezahlen allerdings immer die einfachen Menschen in Gaza, Kinder, Frauen, Männer, Junge und Alte. Man trauert dort um 34 Tote, darunter 6 Kinder und 4 Frauen. Außerdem sprechen palästinensische Angaben, bestätigt von OCHA, von 190 Verwundeten, darunter 64 Kinder und 38 Frauen.

Bis zum 13. Mai traf eine Rakete, die aus Gaza abgefeuert wurde, ein Gebäude in der südlich von Tel Aviv gelegenen Stadt Rehovot. Es gab einen Toten, wohl eine Frau über 80, und mehrere Verletzte sowie großen Sachschaden am getroffenen Gebäude.Außerdem wurde ein palästinensischer Arbeiter aus Gaza, der in Israel arbeitet, durch eines der palästinensischen Geschosse getötet.

All dies steht, und das muss immer wieder betont werden, in keinem Vergleich zur immensen Gewalt, die Israels Armee mit seinen überlegenen Waffen im Gazastreifen ausübt. Israel ist die regionale Großmacht mit einer der stärksten Armeen der Welt und hält den Gazastreifen unter so massivem und menschenverachtendem Druck, dass die Menschen gerade noch überleben können. Jeder militärische Angriff auf Gaza schafft große Zerstörungen und führt immer wieder dazu, dass viele Menschen getötet werden und es unzählige Verletzte gibt.

Die Nakba hält unvermittelt an

Für die Palästinenser ist auch diese neue Runde im langen Krieg gegen Gaza eine neue Phase in der ununterbrochenen Nakba, der ununterbrochenen Katastrophe, die Israels Herrschaft über sie bedeutet, seit 1948. Sie wissen, dass es das heimliche Ziel aller israelischen Regierungen seit 1948 war, sukzessive das gesamte historische Palästina unter ausschließlich jüdisch-israelische Kontrolle zu bekommen und parallel dazu möglichst viele Palästinenser „loszuwerden“ bzw. – in der Formulierung von Patrick Wolfe – zu eliminieren.Die neue Regierung Netanyahu mit Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich unterscheidet sich lediglich darin von den vorherigen Regierungen, dass all diese Ziele, dass diese Gewaltpolitik offen und sogar mit Stolz benannt und als Ziel proklamiert werden, die baldmöglichst erreicht werden sollten.

Für Anas, einen jungen palästinensischen Studenten aus Gaza, gibt es Hamas und den Islamischen Jihad, weil die Menschen in Gaza nur eine Alternative und nur eine Hoffnung haben, nämlich Widerstand gegen Israel und Kampf gegen die israelischen Angriffe.

Gaza wird sich nie ergeben, hört man immer wieder in Gesprächen mit jungen Palästinensern dort. „In einer Realität, in denen Israel den Palästinensern auch die einfachsten Dinge zum Leben und Überleben verwehrt und in der die israelische Gesellschaft und die Welt uns vergessen haben, haben wir nur einen Weg daran zu erinnern, dass es uns gibt, dass wir existieren: nämlich Widerstand“, so der Schluss, zu dem Anas kommt.

Gaza, das weltweit größte Gefängnis

Kurz möchte ich hier auf die Frage der Gewalt eingehen mit der endlos wiederholten Mantra: „Wenn nur die Palästinenser weniger gewalttätig wären, könnte Israel schnell mit ihnen Frieden schließen“.

Es lohnt sich, dazu Nelson Mandela zu lesen:

„Es ist immer der Unterdrücker, nicht der Unterdrückte, der diktiert, welche Form der Kampf annimmt. Wenn der Unterdrücker Gewalt anwendet, dann haben die Unterdrückten keine Wahl, als mit Gewalt zu antworten“.

Entscheidend ist dabei für meine Analyse, dass Israels „Politik“ gegen Gaza, gegen die Gesellschaft, gegen die Menschen in Gaza, ausschließlich aus Gewalt besteht, immer nur Gewalt.Alle Organisationen dort, Hamas, der Islamische Jihad, die PFLP, und durchaus auch Fatah, müssen aus israelischer Sicht immer wieder „niedergeschlagen und zusammengebombt“ werden. Dies trifft aber zuerst und vor allem die Menschen in Gaza in ihrer Gesamtheit. Sie müssen, so die israelische Armee, wissen, dass sie nichts zu sagen und auch keine Zukunft haben, ja sich am besten in Luft auflösen sollten. Das israelische Militär benutzt außerdem unübertroffen zynisch den Begriff „Rasen mähen“ für seine Gewalt in Gaza. Rasen mähen als etwas, das regelmäßig gemacht werden muss.  Zwar argumentiert Israel immer,es habe keine Alternative als sich gegen den palästinensischen Terrorismus zu verteidigen. In Wirklichkeit ist aber Israel durchweg der Aggressor. Schließlich ist Israel der Besatzer, der Gaza seit 2006/7 einerseits abriegelt von Land, vom Meer, von der Luft und dies nicht zuletzt in enger Kooperation mit Ägypten! und andererseits mittels einer brutalen Blockade unterdrückt – auch nach dem Rückzug unter Scharon 2005, speziell seit 2006, dem Wahlsieg der Hamas in den palästinensischen Parlamentswahlen.

Ohne Übertreibung können wir sagen, dass Israels Besatzung über Gaza die schlimmste und unerträglichste Besatzung weltweit ist, vor allem ist sie eine endlose Besatzung.

In immer neuen Berichten von Human Rights Watch  und Amnesty International und B’Tselem wird Gaza als das größte Freiluftgefängnis der Welt beschrieben.

Die endlose Blockade, die Abriegelungen und damit die Unterbindung jeglicher Mobilität machen den 2.3 Millionen Menschen in Gaza das Leben zur Hölle. Ihre Wirtschaft ist weitgehend zerstört. Und durch die Blockade seit 2006/7 ist die palästinensische Gesellschaft weiter fragmentiert: in Gaza im Südwesten, in das Westjordanland/Westbank  und mitten drin in Ost-Jerusalem. All dies konstituiert Apartheid und ist damit ein

Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Gehen wir zurück zu Israel als dem Aggressor gegen Gaza:

Nicht nur seit 2006, schon seit 1967, und, oft vergessen, schon im Krieg 1956

(sogenannte Dreier-Aggression von England, Frankreich und Israel gegen Nassers Ägypten) übte Israel unmenschliche Gewalt in und gegen Gaza aus. Die Gewalt von 1956 wurde der Vergessenheit entrissen durch Joe Sacco in seinem Buch von 2010: „Footnotes in Gaza“. Dieses Buch ist visueller Journalismus vom Besten. Sacco zeigt unter anderem die israelischen Massaker von 1956, u.a. in Rafah, wo die israelische Armee mehr als hundert Menschen aus Gaza erschießt, einfach so, völlig grundlos.

Israel, der ständige Aggressor

Worauf basiert meine Analyse von Israel als dem ständigen Aggressor?

In meinem Buch „Kein Frieden für Palästina“ (2021) zeige ich dies (S.153 ff.) am Beispiel des Jahres 2012. Was war der Kontext?  Gershon Baskin, der schon eine wichtige Rolle bei der Freilassung von Gilad Shalit aus Gaza gespielt hatte, operierte 2012 als Unterhändler mit dem Hamas-Führer Ahmad Ja’bari und war dabei praktisch an einem Durchbruch angelangt.

Ja’bari hatte sich bereit erklärt, im Namen von Hamas einen langandauernden Waffenstillstand mit Israel zu unterzeichnen. Ehe es zur Unterzeichnung kam, wurde er jedoch am 14.November 2012 durch die israelische Armee ermordet.

In Haaretz ist dazu (vom leider allzu früh verstorbenen)  Reuven Pedatzur  zu lesen (4.12.2012):

„Unsere politischen Entscheidungsträger, darunter der Verteidigungsminister und vielleicht auch Premierminister Benjamin Netanyahu, wussten von der Rolle Ja’baris bei der Vorbereitung eines permanenten Waffenstillstandes.“ Trotzdem entschieden sie sich dagegen. „Der Beschluss zur Tötung Ja’baris zeigt, dass sie meinten, dass ein Waffenstillstand zum damaligen Zeitpunkt für Israel nicht wünschenswert und ein Angriff auf die Hamas vorzuziehen war.“

Israel entscheidet sich also im Zweifel grundsätzlich für Krieg und militärische Optionen, nicht für Waffenstillstand und Frieden. Das Signal an Hamas 2012 war deutlich: Israel will nur in der Sprache der Waffen mit ihr kommunizieren. Dies ist der Grund, dass ich generell (und speziell in meinem Buch von 2021) vom langen Krieg gegen Gaza spreche. In diesem Krieg gibt es immer neue heiße Phasen, seit 2006 bis heute.

Die heiße Phase 2014 sticht hervor durch ihre Brutalität und Grausamkeit und das Ausmaß der Zerstörung, das die israelische Armee in Gaza anrichtete. Insbesondere stützte sich die Armee dabei auf die sogenannte Dahiya Doktrin, die die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt sowie die Zerstörung ziviler Infrastruktur vorsieht. Denn diese Infrastruktur könnte ja potentiell von bewaffneten Militanten benutzt werden, sprich es geht um Gaza in seiner Gesamtheit. Außerdem folgte die Armee der „Hannibal-Direktive“, einer Taktik, die benutzt wird, wenn Verdacht auf Entführung von Soldaten durch Palästinenser besteht. Dann muss alles rücksichtslos zerstört und zusammengeschlagen werden, wie konkret in Rafah im Süden des Gaza-Streifens durchgeführt.

Alain Gresh schreibt deshalb in Le Monde Diplomatique, dass keine andere Armee der Welt offen eine Doktrin des Staats-Terrorismus formuliert hat. Sicher haben sowohl die USA zum Beispiel im Irak oder Russland in Tschetschenien Staats-Terrorismus angewandt. Eine Doktrin dazu haben sie jedoch nie entwickelt.

USA und Europa verhindern legitime Proteste

All dies schert führende Politiker in Europa und in den USA sehr wenig. Israelische Massaker nimmt man nicht wahr, man klammert sie aus, weil sie nicht zum Freund und Verbündeten Israel und dem Bild, das man sich von Israel gemacht hat, passen. Und immer neue Staatschefs im Westen, z.B. US Präsident Biden, „outen sich“ als Zionisten. Und es bleibt nicht dabei. Wenn sich Palästinenser am 15. Mai an ihre historische Katastrophe, an die Nakba, erinnern wollen, wird ihnen das immer wieder untersagt. Ihre Demonstrationen werden, wie z.B. in Berlin, schlicht und einfach verboten. Das billige Argument, das man dabei aus der Mottenkiste zieht, ist immer wieder Antisemitismus. Von der Freiheit, die es in demokratischen Staaten doch geben sollte, von den vielbeschworenen europäischen und westlichen Werten, bleibt dabei nicht viel übrig.

Abschließen möchte ich diesen Beitrag zur Nakba mit einem Zitat des palästinensischen Ingenieurs, Planers und Aktivisten Salman Abu Sitta. In einem Vortrag anlässlich 105 Jahre Balfour Declaration in Edinburgh stellt er nachfolgende Forderungen an England als dem Verantwortlichen für die Nakba:

– Eine Entschuldigung an die Palästinenser für das von England verursachte Leiden

– Die Umsetzung und Realisierung des Rechtes auf Rückkehr für die Palästinenser

– Die Bezahlung von Kompensation an die Palästinenser für alle Verluste und Zerstörungen

– Hilfe beim Wiederaufbau des neuen Palästina und der Repatriierung seiner Bewohner

– Die Lehre und Verbreitung der richtigen Geschichte Palästinas in Schulen und  Medien

– Schließlich die Wiederherstellung Palästinas in Gerechtigkeit und Freiheit, ohne Rassismus, Apartheid, Besatzung und Kriegsverbrechen und ohne Zionismus, der dafür verantwortlich zeichnet.

Die dumm-schändliche Rede von Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU Kommission in Brüssel, hat Salman Abu Sitta in einem Brief an sie schon so grundlegend kritisiert, dass ich darauf nicht mehr eingehen muss.

Wie kann es weitergehen mit der von den USA und Kanada bis Europa demonstrierten westlichen „Nibelungentreue“ zu Israel, egal welche Kriegsverbrechen Israel begeht?

Überfällig ist heute eine klare Forderung an die israelische Regierung, die auch mit politischen Schritten und Sanktionen durchzusetzen wäre (zunächst europaweit), endlich die Blockade Gazas und die Gewalt gegen die Palästinenser in Gaza, Ost-Jerusalem und dem Westjordanland zu beenden. Gleichzeitig sollte Druck ausgeübt werden, damit Israel endlich bereit wird für eine friedlich-politische Lösung im Land zwischen Mittelmeer und Jordan,

egal in welcher Konstellation: ein Staat mit gleichen Rechten für alle oder aber zwei Staaten entlang der Grenzen von 1967. Dabei drängt sich eine Aussetzung des Assoziationsabkommens der EU mit Israel regelrecht auf.

Entscheidend ist also massiver westlicher Druck in Richtung Ende der Gewalt und hin zu einer gerechten – für alle im gesamten Land zwischen Mittelmeer und Jordantal lebenden Menschen gerechten – Lösung, die ausnahmslos allen Freiheit und Gerechtigkeit gewährt.