Newsletter 89/2019 Beirut Spezial 4
Tag 13 – Rücktritt des Premierministers: Ein Ende der Proteste im Libanon?
Nach dem zweiten Wochenende der Massendemonstrationen im Libanon hält sich die Menge an Teilnehmern auch trotz heftiger Regenfälle konstant. Die vielen durch die Demonstranten errichteten Straßensperren schränken die Fortbewegung im Land stark ein. Einige junge Menschen werden besonders kreativ, sie stellen ihren gesamten Hausrat auf die Straßen: Sofas, Teppiche, sogar einen Kühlschrank. Am Dienstag kommt Bewegung in einen wie gelähmt erscheinenden Libanon.
Mit Spannung wurde die für 16 Uhr angekündigte Rede des Premierministers Saad Hariri erwartet. Seit Mittag wurde bereits gemunkelt, dass er seinen Rücktritt bekannt geben könnte. Kommt dies nun überraschend? War der Druck so groß, dem Ruf der protestierenden Menschen zu folgen?
Die 22-Jährige Physik-Studentin Masha, die selbst regelmäßig an den Protesten teilnahm, sagt dazu: „Der Rücktritt Hariris war eine der Hauptforderungen der Protestbewegung, ebenso wie der Ruf nach Lösungen für das kurz vor dem Zusammenbruch stehende Wirtschaftssystem. Die von Hariri präsentierten Reformen wurden von der Menge abgelehnt, unter anderem, weil sie die Wurzel der Wirtschaftskrise, den Sektarianismus, ignorierten. Diese Struktur erlaubt es der Regierung, ihre Macht zu missbrauchen, wobei sie gleichzeitig geschützt bleibt. Der Aufstand richtete sich nicht gegen individuelle Personen, sondern gegen die Regierungsform im Allgemeinen. Dieser Unterschied ist essentiell. So war der Rücktritt des Premierministers und seines Kabinetts unerlässlich, um die politische Struktur, die die Wirtschaft regiert und kontrolliert, ändern zu können. Das ist aber nur ein erster Schritt in diese Richtung. Durch die Ablehnung der Reformen durch das Volk, könnte es Hariri so aussehen lassen, als hätte er sich durch den Rücktritt im Sinne einer „edlen Persönlichkeit“ geopfert. Tatsächlich hat er, wie seine Vorgänger, dazu beigetragen, Korruption, Oligarchen und Banken zu schützen, die von der gegenwärtigen Wirtschaftsstruktur und den Steuern der Menschen profitiert haben. Die Menschen sehen Hariris Rücktritt als Sieg. Sie drängen nun auf den Rücktritt des Präsidenten, gemeinsam mit den Parlamentsmitgliedern. Nachdem ich seit Beginn an den Protesten teilgenommen habe, sehe ich mich jetzt als Zuseherin der weiteren Entwicklung und deren Folgen. In Bezug auf die nächsten Schritte stellen sich mir viele Fragen. Abgesehen von den utopischen Träumen der Menschen, die jeden Tag auf der Straße sind, existiert auch ein Schweigen einer großen Gruppe von Unterstützern der sektiererischen Struktur, die sich eng mit ihren ethnischen Identitäten verbunden sehen. Meine Hoffnung ist, dass die heutigen Streitigkeiten zwischen Volk und Regierung nicht zu einem Kampf zwischen den Menschen selbst werden.“
Vor Hariris Rücktritt kam es zu Gewaltausbrüchen am Märtyrerplatz in Downtown Beirut: Unterstützer der Amal-Partei sowie der Hizbullah zerstörten Zelte und setzten diese teilweise in Brand. Demonstrierende und auch einige Journalisten wurden fortgejagt. Wie Videos zeigen, stehen die libanesischen Sicherheitskräfte zuerst tatenlos daneben, dies wird auch live im Fernsehen übertragen. Erst mit Eintreffen der Armee werden die Unruhestifter unter Einsatz von Tränengas vertrieben, berichtet die libanesische Zeitung „The Daily Star“.
(Mag. Carina Radler, Graduate Studies in Public Policy and International Affairs an der American University of Beirut)