Newsletter 88/2019 Beirut Spezial 3
Hizbullah und die Proteste im Libanon: „All of them means all of them“
Ursprünglich als Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung ins Leben gerufen, ist die schiitische Partei seit 2005 im libanesischen Parlament vertreten. Die Rolle Hizbullah‘s in den aktuellen Protestbewegungen muss daher im Kontext ihrer allgemeinen politischen und sozioökonomischen Position im Libanon gesehen werden. „Der Einzug ins Parlament geschah zunächst, um sich nicht gegen die Regierung oder das Militär zu stellen, sondern den Widerstand aufrecht zu erhalten. Man wollte einen möglichen Konflikt im Libanon, unterstützt durch westliche Mächte, verhindern“, erzählt ein junger Libanese und Unterstützer der Partei.
Die vermehrte Teilnahme an der innerstaatlichen Politik geschah als Reaktion auf die immer schlechter werdende wirtschaftliche Lage im Land, die vor allem die ärmere libanesische Bevölkerung betraf. „Hizbullah’s Versuche, innerhalb der Regierung wirtschaftliche Reformen voranzutreiben, stießen immer auf Ablehnung durch die tief verankerten symbiotischen Strukturen“, so ein Befürworter. Zur Hochburg der unterstützenden Community gehören die Menschen, die am meisten von der libanesischen Wirtschaftspolitik im Stich gelassen werden. Das betrifft hauptsächlich die Gebiete Südlibanon, Baalbek und den Bezirk Dahiya im Süden Beiruts, teilweise auch den Norden Libanons aufgrund des zentralisierten Staatssystems.
Auf Nachfrage, wie sich Hizbullah’s Sichtweise auf die aktuellen Proteste darstellt: „Die Partei hegt große Bedenken gegen die derzeitigen Proteste, so geäußert von Nasrallah, dem Generalsekretär der Partei. Hizbullah nimmt an den Demos nicht teil, ruft auch ihre Unterstützer zur Zurückhaltung auf. Vor allem gilt es zu verhindern, dass aufgrund einer Teilnahme eine durch den Iran beeinflusste Nachricht an den Westen durch den Libanon gesendet wird. Gleichzeitig sieht Hizbullah die Gefahr der Einflussnahme westlicher Länder durch einen möglicherweise eintretenden Kontrollverlust, um Agenden gegen die Widerstandsbewegungen in der Region durchzusetzen. Die Partei sieht den Rücktritt der Regierung, obwohl unter dem Vorsitz von Premierminister Saad Hariri, einem politischen Gegner, als großen Fehler aufgrund der bereits heiklen wirtschaftlichen Lage.“
Zusammengefasst machte Nasrallah in seiner Rede vergangenen Freitag jedenfalls klar: wirtschaftliche Reformen werden befürwortet, politische Reformen würden die wirtschaftliche Situation nur verschlechtern. Bei einem Sturz der Regierung wäre das Land nicht in der Lage, ein allenfalls entstehendes Machtvakuum zu verkraften.
Am Donnerstag und Freitag kam es zu Zusammenstößen mit Hizbullah-Anhängern in Downtown Beirut, welche Nasrallah aber sofort zur Zurückhaltung aufforderte. Gleichzeitig konnte beobachtet werden, dass sich einige Unterstützer bereits von der Partei distanziert hatten. Eine Wendung, die Nasrallah in seiner Rede ansprach und in Kauf nimmt, wie er sagte. Die eindeutige Forderung, dass ausnahmslos alle die Regierung verlassen müssten, inkludiert auch Hizbullah. Im Gegensatz zu vorhergehenden Protesten sprechen sich dafür Anhänger aller Religionsgruppen aus, so auch die Schiiten im Libanon.
(Mag. Carina Radler, Graduate Studies in Public Policy and International Affairs an der American University of Beirut)