Epochale Niederlage der USA am Hindukusch
Von Matin Baraki
Die Taliban sitzen seit dem 15. August 2021 wieder im Präsidentenpalast der afghanischen Hauptstadt Kabul. „Der Krieg ist zu Ende“, verkündete unmittelbar danach der Taliban-Sprecher Sabihulla Mujahed. Der mit einem US-Paß ausgestattete US-Marionetten-Präsident Mohammad Aschraf Ghani ist mit seiner gesamten Entourage geflohen. Das aus Ameriko- und Euro-Afghanen in einer Koalition mit willfährigen Warlords bestehende durch und durch korrupte Marionetten-Regime hat kapituliert. Die 2001 von den USA und der NATO vertriebenen Taliban haben am Hindukusch wieder die Macht übernommen. Das ist die größte epochale Niederlage der US-Imperialmacht nach ihrem historischen Desaster im Jahre 1975 in Vietnam. Die letzten US-Soldaten haben in der Dunkelheit exakt um 23.59 Uhr Ortszeit am 30. August 2021 Kabul verlassen. Das ist auch eine Niederlage der aus NATO-Ländern bestehenden und selbsternannten „Internationalen Gemeinschaft“. Letztlich auch eine Niederlage für die politische und militärische Elite der BRD, die „Deutschland am Hindukusch verteidigen“ wollte. Als Ergebnis ihres Einsatzes und als Abschiedsgeschenk nach ihrer Nacht- und Nebelflucht haben die westlichen Mächte das afghanische Volk dem Taliban-Regime übergeben. Nun müssen die Afghanen damit leben.
ANA hat sich kampflos ergeben
Seit dem 6. August, als die Taliban immer weiter vorgerückt waren, haben sich sowohl die Afghanische National Armee (ANA) als auch die neu gebildeten Volksmilizen zur Bekämpfung der Taliban zum größten Teil widerstandslos ergeben. Die Soldaten der ANA, die angeblich von den NATO-Ländern gut ausgebildet und ausgerüstet worden waren, sahen nicht mehr ein, sich für ein Regime zu opfern, das vom Ausland eingesetzt und gesteuert wurde. Sie und auch die Offiziere der unteren und mittleren Ränge haben zum Teil bis zu sechs Monaten keinen Sold bekommen. Die seit 2014 jährlich 4,1 Milliarden US-Dollar, die für die Versorgung und Finanzierung der ANA aus dem Ausland nach Kabul geflossen sind, landeten in den Taschen der oberen Administratoren und Offiziere.
Neo-Taliban?
Die Taliban von heute sind nicht die Taliban von 1996 oder 2001. Damals wurden sie von den sogenannten Dorfmullahs (Geistliche) geführt. Ihre derzeitigen Führer sind Absolventen pakistanischer theologischer Hochschulen. Ihre Kinder, darunter auch ihre Töchter, haben dort studiert. Die Taliban beherrschen inzwischen nicht nur den militärischen Kampf und Strategie, sondern auch Diplomatie und Politik. Sie haben im Februar 2020 in der katarischen Hauptstadt Doha bei Verhandlungen die USA buchstäblich über den Tisch gezogen und diese vertraglich dazu verpflichtet, ihre Armee aus Afghanistan abzuziehen. Das war die besiegelte Kapitulation einer imperialen Supermacht. Nun wollen die Taliban das Land regieren. Sie wissen, daß das heutige Afghanistan nicht das Afghanistan von 1996 ist. Etwa 65% der Bevölkerung sind jünger als zwanzig Jahre[1] und von den Entwicklungen der letzten Jahre geprägt. Es ist eine neue Generation herangewachsen, gut informiert und zum Teil gebildet, die anders leben will. Dies werden die Taliban nolens volens berücksichtigen müssen, wenn sie mittel- bzw. gar langfristig am Hindukusch herrschen wollen. Die Signale diesbezüglich deuten darauf hin. Als sie am 8. August Kunduz eingenommen hatten, haben mir Frauen von dort mitgeteilt, daß man ihnen nichts angetan hätte. In Kabul, nach der Einnahme der Stadt am 15. August, kontrollierten sie die Autos, gaben den Fahrern einen Passierschein, wenn sie keine Waffen gefunden hatten und ließen sie dann weiterfahren. Die Geschäfte waren kurz danach teilweise wieder geöffnet worden. Die fliegenden Händler waren auf dem Basar zu sehen. Die Menschen, auch Frauen verschleiert teilweise unverschleiert, gingen einkaufen ohne daß ihnen etwas passiert wäre, wie ich am 16. August direkt aus Kabul erfahren habe.
Hysterie am Kabuler Flughafen
Seit der Kapitulation der Kabuler Administration verließen Regierungs- und hohe Verwaltungsmitglieder sowie die Ameriko- und Euro-Afghanen das Land. Ebenso diejenigen, die Dollars besitzen. Am Kabuler Flughafen warteten tausende Menschen auf eine Möglichkeit, in einem US-Militärtransporter oder mit anderen Militärmaschinen das Land verlassen zu können. Dadurch wurde, unterstützt von den westlichen Medien, eine nie dagewesene Hysterie provoziert. Alte Frauen sind aus entfernten Provinzen, zum Beispiel aus dem Westen Afghanistans an der Grenze zu Iran, nach Kabul gekommen. Alle westlichen Länder waren an der Aktion beteiligt. Allein die USA haben 123.000 Menschen mit riesigen Transportflugzeugen rausgeholt und sie beabsichtigen, noch Tausende weitere zu erreichen. Von den Briten wurden 15.000 und den Deutschen 5.300 Menschen ausgeflogen, weitere 40.000 sollen noch hinzukommen. Diesbezüglich will die Bundesregierung mit den Taliban noch verhandeln. Schon bei der ersten Aktion nach Einnahme von Kabul sind 140 „Ortskräfte“, die als „Augen und Ohren“ [2] der Deutschen bezeichnet wurden, samt ihren Familien aus Kabul ausgeflogen worden.[3] „Die Ortskräfte haben uns geholfen, die deutschen nationalen Interessen durchzusetzen. Das sind Menschen, die für uns gearbeitet haben“ [4], hob der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff im Deutschlandfunk am 25. August hervor. Insgesamt 143.300 aus dem Lande geholte Bürger seien angeblich Ortskräfte, die mit den USA und anderen NATO-Besatzern zusammengearbeitet hätten. Es darf bezweifelt werden, daß die Besatzungsmächte so viele „Ortskräfte“ gehabt haben. In der Kolonialzeit nannte man solche Leute Kollaborateure. Obwohl der politische Leiter der Taliban in Katars Hauptstadt Doha vor der Einnahme Kabuls einer Regierungsdelegation aus Berlin versprochen hatte, daß sie für die Sicherheit der „deutschen Ortskräfte“ Sorge tragen werden, blieben die NATO-Länder bei ihrer Menschenraubaktion. Es ist völlig in Vergessenheit geraten, daß die Bombardierung der von den Taliban gekaperten Tanklastzüge am 4. September 2009 auf Befehl des deutschen Oberst Georg Klein, infolge dessen 174 Zivilisten buchstäblich zerfetzt wurden, auf die Informationen von den „Ortskräften“ basierte. [5] Er hätte, wie seine Berater vorgeschlagen hatten, seine eigenen Kräfte oder eine Drohne hinschicken müssen, um sich ein tatsächliches Bild der Lage zu machen. Dieses Versäumnis entlastet Oberst Klein jedoch keineswegs.
Die Taliban stoppten die Busse, mit denen die „Ortskräfte“ zum Flughafen gebracht wurden: „Ich weiß, daß Sie für ein anderes Land gearbeitet haben, sagte ein Talib. Er bat uns darum, im Lande zu bleiben. Sie trugen Waffen und sie waren nett“, berichtete ein Afghane dem Südasien-Korrespondenten der ARD Peter Hornung am 28. August. „Aber ich wollte doch nicht bleiben. Dann stieg der Talib aus dem Bus aus und ließ uns weiterfahren.“
Die Taliban haben eine Erklärung veröffentlicht, daß sie diese Fachleute brauchen, sie sollen im Lande bleiben und beim Wiederaufbau helfen. Wer mit den ausländischen Feinden und Ungläubigen gearbeitet habe, solle dies nur bereuen. Das aber interessiert die westlichen Länder nicht. Sie rauben dem Land junge und gut ausgebildete Fachkräfte sowie Angehörige der gebildeten Mittelschicht. Also die tragenden Säulen einer Gesellschaft. Das ist ihre Rache an Afghanistan für ihre historische Niederlage. Und wer weiß, ob sie für alle Eventualitäten diese Kräfte als fünfte Kolonne in der Zukunft noch einmal brauchen können. Die Ameriko- und Euro-Afghanen, die seit 2001 in Afghanistan herrschten, waren auch ehemalige Flüchtlinge aus den Jahren des Bürgerkriegs zwischen 1979 bis 1992. Der republikanischer US-Senator Lindsey Graham hat in einem BBC-Interview am 6. September einen erneuten Krieg der USA gegen Afghanistan nicht ausgeschlossen.[6] Dann könnte man die „Ortskräfte“ wieder reaktivieren.
Frauenpolitik der Taliban
Die Taliban wollen zeigen, daß sie auch human handeln können. Am 28. August haben sie am Kabuler Flughafen an die Menschen, die seit Tagen auf einen Abflug warteten, Lebensmittel und Pampers für Kleinkinder verteilt. Sie wissen, daß es in Afghanistan immer noch ausgebildete Frauen gibt, die nicht Kollaborateurinnen waren, die das Land nicht verlassen haben oder von den NATO-Ländern nicht ausgeflogen werden konnten. Am 28. August gaben die Taliban eine Meldung heraus, in der sie alle Frauen, die im Gesundheitswesen tätig sind, aufforderten, zu ihrer Arbeit zu erscheinen, berichtete der Deutschlandfunk. Sie würden Mädchen und jungen Frauen erlauben, Schulen und Universitäten zu besuchen sowie arbeiten zu dürfen, jedoch unter Achtung der islamischen Regeln. Eine Koedukation lehnte der Minister für Hochschulwesen, Abdul Baqi Haqqani, als unislamisch ab. Am 11. September habe ich aus Kabul erfahren, daß die Grundschulen auch für Mädchen geöffnet worden sind.
Taliban wollen Zusammenarbeit
Schon vor der Einnahme Kabuls am 15. August Kabul haben Delegationen der Taliban in Moskau, Teheran und Peking Gespräche geführt. Sie ließen verlautbaren, daß von afghanischem Boden keine Gefahr für die Nachbarn ausgehen werde. Sie streben nach internationaler Anerkennung und allseitiger Zusammenarbeit, auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene, um das Land wiederaufzubauen. Auch zur Bundesrepublik Deutschland wollen sie diplomatische Beziehungen. Taliban-Sprecher Sabihullah Mujahed äußerte am 5. September der Welt am Sonntag gegenüber, Deutschland sei willkommen. Dabei bezog er sich auf die seit über 100 Jahren traditionellen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Die Taliban wünschen sich von der Bundesregierung und anderen Ländern finanzielle Unterstützung, humanitäre Hilfe und eine Zusammenarbeit auf den Gebieten Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft.[7]
Die VR China will die Südroute ihrer „Seidenstraße“ durch Afghanistan ziehen. Pakistan, Iran und die Russische Föderation haben ebenfalls Projekte in Wirtschaft und Infrastruktur im Focus. Sowohl die Taliban als auch die afghanischen Nachbarn haben großes Interesse an einem stabilen Afghanistan.
Fundis und Realos
Die Taliban sind keine homogene Organisation. Es gibt nicht d i e Taliban. Die Bewegung besteht zumindest in der Führungsebene aus Fundis und Realos. Deren geistlicher Führer Mawlawi (Großmullah) Heibatullah Achundsada ist ein Fundi, während der Leiter des politischen Büros der Taliban in Katar und Verhandlungsführer bei den US-Abzugsgesprächen mit dem US-Vertreter Zalmai Khalilzad, Mullah Abdul Ghani Baradar, ein Realo ist. Da die Gespräche über eine breite Koalitionsregierung mit anderen Kräften, wie dem damaligen Präsidenten Hamid Karsei sowie dem Präsidentschaftskandidaten Abdullah Abdullah, zu keinem Ergebnis führten, haben die Taliban am 7. September ein „Übergangskabinett“ vorgestellt, „um die notwendigen Regierungsarbeiten durchführen zu können“ [8], so der Taliban-Sprecher Mujahed.Mullah Mohammad Hassan (von westlichen Medien fälschicherweise „Achund“ genannt) wurde zum Interims-Regierungschef, zu seinem Stellvertreter Mullah Abdul Ghani Baradar ernannt. Der Ultra-Fundamentalist Sarajuddin Haqqani übernahm das Innenressort. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terror-Gruppe eingestuft und steht auf der Most-Wanted-Liste des FBI. Die USA suchen Haqqani mit einem Kopfgeld fünf Millionen US-Dollar. Obwohl der Vater von Haqqani, Jalalluddin Haqqani und Gründer des Haqqani-Netzwerks, ein Lieblingsfreiheitskämpfer des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan war und im Weißen Haus empfangen wurde, wurden der Sohn und seine Gruppe zu Terroristen erklärt. Der als versöhnlerisch bekannte Amir Chan Motaki ist neuer Außenminister, er leitete bislang die Aussöhnungskommission der Taliban[9] mit anderen politischen Gruppierungen. Darüber hinaus sind auch zwei Tadjiken und ein Usbeke ins Kabinett aufgenommen worden. Allerding sind weder Frauen dort vertreten, noch gibt es ein Frauenministerium.
Wenn die Afghanen „Glück“ haben, werden sie ein islamisches Regime, wie in Iran, bekommen. Haben sie jedoch Pech, könnte ein Regime nach saudi-arabischem Muster entstehen.
Da nun die fremden Besatzer vertrieben sind, die korrupte Administration kapituliert hat, der selbsternannte „nationale Widerstand“ unter dem Grünschnabel Ahmad Masud und dem gestürzten Vizepräsidenten Amrullah Saleh in der Provinz Pandjscher besiegt ist, und damit der Krieg als beendet gilt, besteht die Hoffnung für friedliche Verhältnisse am Hindukusch. Das ist auch das Erste und das Wichtigste, was sich die absolute Mehrheit der Afghanen wünscht. Nach vierzig Jahren Bürgerkrieg und zwanzig Jahren NATO-Krieg sehnen sich die afghanischen Völker nur noch nach Frieden! Um diesen Wunsch Realität werden zu lassen, müssen die fünf Prinzipien des Völkerrechts auch und gerade jetzt am Hindukusch respektiert werden. Einer dieser Prinzipien lautet: „Keine Einmischung in innere Angelegenheiten des anderen.“[10] Afghanistan muß endlich zur Ruhe kommen, und die Völker dieses geschundenen Landes müssen über ihr Schicksal selbst bestimmen. Es wird kein demokratisches und fortschrittliches Afghanistan sein, aber das ist die Angelegenheit der Menschen am Hindukusch.
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Dr. phil. Matin Baraki
Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung
Philipps-Universität Marburg
E-Mail: baraki@uni-marburg.de
Internet: https://matinbaraki.wordpress.com/
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[1] Vgl. Hanefeld, Michael: Abwarten und hoffen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 18.8.2021, S. 13.
[2] Raphael, Raphael: Noori half den Deutschen – doch wer hilft ihm?, in: Spiegel Online: Samstag, 02.11.2019: 09:07 Uhr.
[3] Vgl. Meier, Christian u. a: „Dieser Angriff war nicht der letzte“, in: FAZ, 30.8.2021, S. 2; Deutschlandfunk, 27.8.2021, 19:00 Uhr; Grieß Thielko: Durch den Abwasserkanal zum Kabuler Flughafen, in: Deutschlandfunk, 27.8.2021: https://www.deutschlandfunk.de/flucht-aus-afghanistan-durch-den-abwasserkanal-zum-kabuler.694.de.html?dram:article_id=502286.
[4] Alexander Graf Lambsdorff in Deutschlandfunk, am 25.8.2021, 8:15 Uhr.
[5] Vgl. Wann dürfen Deutsche Töten? Die Bundeswehr: Afghanistan und der Krieg im 21. Jahrhundert, Der Spiegel, Nr. 49, 30.11.2009, S. 22-35: Als Deutschland in den Krieg zog; Afghanistan: Die Geschichte eines Irrtums, in: Der Spiegel, Nr. 36, 5.9.2011, S. 75-87.
[6] https://www.bing.com/videos/search?q=US-Senator+Garham+f%c3%bcr+Einsatz+in+Afghanistan&qpvt=US-Senator+Garham+f%c3%bcr+Einsatz+in+Afghanistan&FORM=VDRE.
[7] Vgl. Afghanistan: Taliban wollen offizielle diplomatische Beziehung mit Deutschland, in: Welt am Sonntag, 5.9.2021; Afghanistan: Taliban wollen offizielle diplomatische Beziehung mit Deutschland, in: ZEIT ONLINE.
[8] Taliban stellen neue Regierung vor: VIER saßen bereits in Guantánamo! DIESE Männer regieren jetzt Afghanistan, in: dpa, 8.9.2021.
[9] Vgl. Taliban stellen neue Regierung vor: Vier saßen bereits in Guantánamo! Diese Männer regieren jetzt Afghanistan, in: dpa, 8-9-2021.
[10] Handbuch der Verträge 1871-1964, Berlin 1968, S. 558.