Ein starkes Signal des Globalen Südens: Die BRICS Gipfelkonferenz in Kazan

Robert Fitzthum

Die Erweiterung zur international handlungsfähigen Organisation

– ein großer Fortschritt

Von 23.-24. Oktober 2024 wurde im russischen Kazan die diesjährige Gipfelkonferenz der BRICS-Staaten unter dem aktuellen russischen Vorsitz abgehalten. Die frühen Mitglieder des Blocks – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – begrüßten den Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate erstmals bei einem Gipfel als Vollmitglieder. Diese Erweiterung ist ein Meilenstein in der Entwicklung von BRICS. Die Teilnahme von 36 Ländern und 6 internationalen Organisationen am Gipfel, darunter 20 Staatsoberhäuptern, machte ihn zu einem globalen Ereignis ersten Ranges.

Da BRICS jetzt schon 45 Prozent der Weltbevölkerung und über ein Drittel der Weltwirtschaft ausmacht, wird die weitere beschlossene Expansion die stattfindende Verschiebung des wirtschaftlichen Schwerpunktes und Wachstums von den entwickelten Staaten des Westens zu den Schwellen- und Entwicklungsländern und die Multipolarisierung mit sich bringen. Schon jetzt sind, am BIP gemessen, die BRICS-Staaten bedeutender als die hochentwickelten reichen G7-Staaten, dem BRICS-Gegenpol. Noch dazu wird 2024 laut IMF das Wachstum der Schwellen- und Entwicklungsländer mehr als doppelt so groß wie das der Industriestaaten sein.

Um die weitere Entwicklung bewältigen zu können und die Entscheidungsprozesse in geordneten Bahnen halten zu können, wurde am Gipfel eine Aufteilung in Mitgliedsstaaten und Partnerstaaten beschlossen.[1] Belarus, Bolivien, Kuba, Indonesien, Kasachstan, Malaysia, Thailand, die Türkei, Uganda, Usbekistan und Vietnam gehören zu den  Ländern, die derzeit als BRICS-Partner anerkannt sind. Offizielle Mitglieder haben das Stimmrecht bei Blockentscheidungen, die volle Teilnahme an Gipfeltreffen und Sitzungen und die volle Verpflichtung, BRICS zu vertreten. Andererseits dürfen sich BRICS-Partner nur in begrenztem Umfang an BRICS-Aktivitäten beteiligen und können dennoch an anderen internationalen Initiativen teilnehmen, ohne sich voll und ganz für den Block zu engagieren. Während die neuen BRICS-Partner das Potenzial haben, in Zukunft Vollmitglieder zu werden, werden sie aus Gründen, die aber nur intern bekannt sind, nicht sofort als Mitglieder aufgenommen. Welche sind die weiteren Kandidaten Partner zu werden? Algerien, Senegal, Aserbaidschan, Kolumbien und Venezuela, Sri Lanka, Malaysia, und Myanmar  haben entweder formelle Aufnahmeanträge gestellt oder ihr Interesse an einer Partnerschaft bekundet. Das plötzliche weltweite Interesse an einem BRICS-Beitritt entstand durch die wirtschaftlichen Probleme aufgrund der Pandemie, der von der Inflation in vielen Ländern ausgelösten Wirtschaftskrise sowie schließlich seit 2022 durch die westliche Sanktionspolitik gegen Russland, die viele arme Länder erheblich trifft. Die Maß- und Gesetzlosigkeit sowie Menschenverachtung des israelischen Krieges gegen Palästina und auch den Libanon, unterstützt durch die USA und viele EU-Staaten, verstärkt das Bestreben nach internationaler Gerechtigkeit und Sicherheit. BRICS entwickelt sich von einer Gruppe von Schwellenländern zu einer Gruppe von großen, mittleren und kleinen Ländern, seine Struktur hat sich verändert, mit einer breiteren geografischen Verteilung, Vielfältigkeit bezüglich Lieferketten und Energieangebot, vielfältigeren Kulturen. Vor allem die Repräsentativität wurde erheblich verbessert: von einem einfachen Dialogmechanismus für Schwellenländer zur Plattform des Globalen Südens. Wenn man sich die Zusammensetzung der neuen Mitglieder und Partner ansieht, muss man ja erstaunt sein, dass die Vielfalt der politischen und Gesellschaftssysteme eine Zusammenarbeit und die Anerkennung der gemeinsamen politischen Plattform möglich macht und nicht verhindert. Es gibt Sozialistische Länder, Monarchien, Demokratien westlichen Strickmusters, präsidentiale Republiken, islamische Länder. Übereinstimmend mit dem Völkerrecht, dass alle Staaten gleiches Recht haben, ihr System zu wählen und in Übereinstimmung mit den fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz geht es hier um die Kooperation zum gegenseitigen Vorteil.

Die Aufnahme neuer Kandidaten und Mitglieder stößt auf Widerstand beim Globalen Westen. Die USA treten gegen die Mitarbeit von Kolumbien ein, die Monroe-Doktrin ist noch immer Leitlinie für die Lateinamerika-Politik. So warnten die USA jüngst übrigens auch Brasilien mehrfach der Belt&Road Initiative beizutreten. Und die EU ist nicht sehr amüsiert, dass die Emirate und Aserbaidschan, ihre Hoffnungsträger für den zukünftigen Gasbezug, sich in einer Organisation mit Russland und China wiederfinden.

Die Zusammenarbeit in internationalen Organisationen wird ein wichtiger Hebel sein, seine Forderungen gegenüber dem Globalen Westen durchzusetzen. Man muss aber betonen: die BRICS sind kein Teil eines globalpolitischen Machtspiels China gegen USA, sie sind eine Organisation der beteiligten Länder, die sich in keine Machtblöcke einordnen lassen wollen. Die USA und ihre Marionette, die EU, die durch eine binäre Weltanschauung von Gut gegen Böse eingeschränkt sind, sehen die Welt nur als ein Land ist „für mich“ oder „gegen  mich“. Dadurch werden  BRICS-Länder  in einen Systemwettbewerb hineingezogen, den sie nicht wollen.

Die „Kazan-Declaration“[2]

Neben der Erweiterung war der Beschluss der „Kazan-Declaration“ durch die Mitglieder ein wesentliches Ergebnis des Gipfels. 134 Punkte umfassend, gibt sie BRICS eine umfassende politische Plattform für die Zukunft, auf der auch neue Mitglieder sich wiederfinden müssen. Sie ist eine Mischung aus Grundsatzfestlegungen und -zielsetzungen, Stellungnahmen zu aktuellen weltpolitischen Themen, BRICS-Aktivitäten und Kooperationen  und Vorhaben für die Zukunft.

Gleich die Überschrift „Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte globale Entwicklung und Sicherheit“ gibt die politische und wirtschaftliche Richtung vor. BRICS kämpft für die Möglichkeiten und der Unterstützung einer ungehinderten, selbstbestimmten Entwicklung der Länder in Entwicklung und Schwellenländer, sieht sich selbst als Vorkämpfer. Man plädiert für eine Demokratisierung der Global Governance, vor allem Einbindung der Schwellen- und Entwicklungsländer in Entscheidungen, die alle betreffen, weg von US-Hegemonie und Unilateralismus. BRICS tritt für Frieden und Sicherheit ein, da es ohne Frieden keine Entwicklung gibt. Dazu sieht man eine Notwendigkeit, die UN in Richtung stärkerer Kompetenzen der Entwicklungsländer zu reformieren. Aufgrund der vielen illegal unilateral verhängten Embargos, Sanktionen, Handelsbeschränkungen und Zölle sieht man auch die Notwendigkeit einer Reform der WTO, in erster Linie das Ende der Blockade des Streitschlichtungssystems durch die USA. Das internationale Finanzsystem muss demokratisiert werden, vor allem das Quotensystem des Internationalen Währungsfonds der tatsächlichen Entwicklung der Wirtschaftsstärken angepasst werden und die Besetzung von Spitzenpositionen von IMF und Weltbank nicht den Industrieländern vorbehalten werden. Man geht als BRICS einen doppelten Weg: einerseits zu versuchen die internationalen Institutionen zu reformieren, andererseits eigene Institutionen auszubauen.

Bezüglich der Stellungnahme zu internationalen Themen wird in fünf(!) Kapiteln die massenhaften Tötungen von Palästinensern durch Israel und dessen aggressive Politik verurteilt, ein Waffenstillstand und die Schaffung einer Zweistaatenlösung gefordert. Bezüglich der Ukraine wird eine friedliche Lösung des Konflikts durch Diplomatie und Dialog gefordert.

Die  wirtschaftliche Handels- und Investitionskooperation in BRICS soll weiter ausgebaut werden, die Unterstützung der Länder in Entwicklung in neuen Technologien wie AI, Industry 4.0, u.a. soll organisiert werden. Die Rolle der „New Development Bank“ soll in ihrer Rolle als Entwicklungsbank rasch ausgebaut werden.

Es gibt in der Deklaration viele Kooperationsvorhaben betreffend Kultur, Wirtschaft, Ausbildung, Forschung, Politik und Umwelt, das nächste Vorsitzland 2025, Brasilien, wird sie weiter verfolgen.

Dedollarisierung: ein langer, pragmatischer Prozess, kein abrupter Bruch

Viele Staaten leiden unter der Verwendung des Dollar als Zahlungsmittel, da sie vom internationalen Transaktionssystem SWIFT auf Anordnung der USA vom Finanzsystem abgeschnitten werden können. Die sich entwickelnde Verwendung lokaler Währung bei Handelstransaktionen wird von dem Wunsch vorangetrieben, die Unternehmen und Zentralbanken der Mitgliedsländer von geopolitischen Risiken abzuschirmen und die Kosten zu senken.

Im Vorfeld wurden von verschiedenen Seiten zu diesem Thema große unrealistische Erwartungen geschürt, die beim Gipfel so nicht erfüllt wurden.

Der Russische Präsident Putin hat vor der Tagung ein fachlich und technisch ausgezeichnetes System vorgestellt, das vom Finanzministerium in Moskau in Kooperation mit einem Beratungsunternehmen erarbeitet wurde. Es beinhaltete ein Konzept der transnationalen Geldtransaktionen von Digitaler Währung durch nationale spezialisierte, in kein US-Dollar Geschäft verwickelte Geschäftsbanken sowie  Zentralbanken durch Nutzung digitaler Plattformen.[3]  Wie Präsident Putin aber bei der Pressekonferenz nach Beendigung des Gipfels mitteilte, wird auf Basis der Gespräche beim Gipfel die Realisierung dieser Gesamtlösung verschoben und ein pragmatischerer Ansatz der Dedollarisierung gewählt. Die Dringlichkeit einer „großen Lösung“ ist natürlich bei den sanktionierten Ländern Russland, Iran, Kuba und Venezuela sehr hoch, bei vielen anderen Ländern, wie z.B. den Emiraten, weniger. Die Mitgliedsländer werden weiter zur Vermeidung des Dollar nach Möglichkeit die Verwendung lokaler Währungen ausbauen und als Zahlungssystem weiter vorhandene nationale Lösungen verwenden. Auch Tauschhandel bietet sich als Notlösung an. Es wurden ja viele bilaterale Währungs-Swap-Vereinbarungen zwischen den Zentralbanken der BRICS-Länder und den Zentralbanken anderer Länder unterzeichnet. Darüber hinaus existieren und funktionieren bereits einige alternative Informationstransfer- und Zahlungssysteme, die es den Ländern ermöglichen, das von den USA dominierte SWIFT-System bei Bedarf zu umgehen. Dazu gehören Chinas RMB Cross-border Interbank Payment System (CIPS) und Russlands SPSF-System. Unified Payment Interface (UPI), das von Indien entwickelt wurde, ist eine große Erfolgsgeschichte und wurde von vielen Ländern übernommen. Obwohl das Design der Zahlungsplattformen der BRICS-Länder nicht unbedingt auf digitaler Währung basiert, sind viele BRICS-Länder im Central Bank Digital Currency (CBDC)-Projekten sehr weit fortgeschritten, was eine Voraussetzung für die von Putin vorgestellte langfristige Gesamtlösung ist. Als Teil der afrikanischen Freihandelszone hat die Afrikanische Union auch einen Mechanismus namens Panafrikanisches Zahlungs- und Abrechnungssystem eingerichtet. Die Zentralbanken von mehr als 20 afrikanischen Ländern sind diesem Zahlungssystem beigetreten.

Zur Reduzierung der Rolle des Dollars als Reservewährung, das andere große Problem,  ist 2018 auf einem Treffen des Valdai-Clubs eine neue Idee aufgetaucht. Es gibt den Vorschlag, auf Basis eines Korbs von Währungen der BRICS-Länder eine neue Reservewährung zu schaffen. Der vorläufige Projektname R5 basiert auf den Anfangsbuchstaben der Währungen der alten BRICS-Länder Real, Rubel, Rupie, Renminbi und Rand. Jedenfalls ist nicht geplant, dass diese Reservewährung die bestehenden Währungen der BRICS-Staaten ersetzt. Dieses Thema wurde aber diesmal offensichtlich nicht diskutiert. BRICS-Länder kaufen derzeit mit Vorliebe Gold anstatt sich mit US-Dollars einzudecken.

In der Deklaration heißt es dazu: „Wir beauftragen unsere Finanzminister und Zentralbankgouverneure, gegebenenfalls die Frage der lokalen Währungen, Zahlungsinstrumente und Plattformen weiter zu prüfen und uns bis zur nächsten Präsidentschaft Bericht zu erstatten.“

Dem Westen wird die Luft ausgehen

Die Expansion von BRICS deutet darauf hin, dass sich die Kluft zwischen dem Westen und dem Rest der Welt weiter ausdehnen wird. Der Reiz von BRICS liegt nicht nur in seinem wirtschaftlichen Potenzial sondern auch in seiner Herausforderung für den vom Westen dominierten Status quo. Ich erwarte nicht, dass die USA widerstandslos dem allen zusehen werden. Aber Europa sollte vom hohen Ross heruntersteigen und seinen ihm zustehenden Platz als wichtiger Pol einnehmen und die Demokratie in internationalen Beziehungen unterstützen.


[1] Saudi-Arabien wurde von BRICS-Seite aus bereits aufgenommen, ist aber noch (unter US-Druck?) in internen Analysen bevor es die Aufnahme annimmt.

[2] https://cdn.brics-russia2024.ru/upload/docs/2024-06-13-Final_Kazan_Declaration_of_the_11th_Meeting_of_BRICS_Ministers_11.pdf?1718349998309901

[3] Es gibt einen Prototyp eines solchen Projekts, genannt Digital Currency Bridge oder mBridge,  in einem gemeinsamen Vorhaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in der Schweiz, der Hong Kong Monetary Authority, der Bank of Thailand, dem Digital Currency Research Institute of the People’s Bank of China, der Central Bank of the United Arab Emirates und der Central Bank of Saudi Arabia.